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Erwin Piscator bis Bertolt Brecht, von Ernst Toller bis Jura Soyfer neue Möglichkeiten der Gestaltung eröffneten.'* Man könnte also argumentieren, was uns heute so krude, ja bisweilen politisch reaktionär vorkommt, sei nur der Vorbote von etwas Neuem, das seine Bestätigung schon noch erhalten würde. Ist das Konstrukt des notwendigen Fortschritts aber ohnehin für die Geschichte der Kunst fragwürdig, so lässt es sich auf das Theater kaum so anwenden. Denn erstens ist das beharrende Moment des Theaters insofern gegeben, da es vom Handwerk des Schauspielers her seine fundamentale Grundlage hat. Das ist kein Bekenntnis zum Konservativismus, sondern erklärt, wieso die Verkündigung einer neuen Ästhetik, auf die Praxis des Theaters umgelegt, oft etwas unübersehbar Dilletantisches hat. Schwerer wiegt aber, zweitens, dass sich die Gegenwartsgeschichte des Theaters wohl kaum von den enormen Veränderungen des gesellschaftlichen Lebens der jüngeren Zeit ablösen lässt. In diesem Sinne hat Joachim Fiebach - der die Theatergeschichte der letzten Jahre anders und viel positiver sieht, als ich sie bewerten kann — geschrieben: „Der ‚Konsumerismus‘, der übermächtig die Lebenswelt und individuelle Lebensgehalte bestimmt, ist die für unsere Zusammenhänge wichtige Komponente des geschichtlichen Wandels. Er äußert sich in der Versessenheit auf den Erlebniskitzel, den Spaß-,Event‘, dessen sich immer schneller modifizierende Gestalten kulturelle Öffentlichkeit beherrschen, kräftig genährt durch die expositionell wachsende Macht elektronischer Kommunikation (der audiovisuellen Medien). Freilich wird man nicht die konstatierten „Tendenzen im ungebremst globalisierten Kapitalismus’ mechanisch auf das Theater übertragen können und dabei die Elemente des Widerstehens übersehen. Die aus den zitierten Tendenzen resultierenden Kräfte allerdings sind so stark, dass sie eine ihr gleichgerichtete Scheinwelt des Theaters erzeugen, die zwar alte Sehgewohnheiten zerstört und damit manchen Theaterbesucher ärgert, in Wahrheit aber der Abklatsch des rasanten ‚Konsumerismus‘ ist. Ein spezieller Mechanismus ist dabei im Theaterbetrieb wirksam. Provokant hat das der mutige Regisseur Adolf Dresen, der die Depravation des Begriffs Avantgarde in den Theaterverhältnissen der Gegenwart sah, kurz vor seinem Tod analysiert. Dresen zeigte den Widerspruch zwischen einem subventionierten Theaterbetrieb, der zumindest so direkt nicht der Nachfrage unterworfen ist, und den Regisseuren, die sich auf dem freien Markt befinden, wodurch sie sich dem Zwang unterwerfen, durch Originalität gegen die Konkurrenz der anderen zu bestehen. „Die Originalität der auf dem Markt stehenden Avantgarde-Regisseure wird dann durch Konkurrenzdruck gespornt, während die Subventionen die Bewertung und Begrenzung seiner Produkte durch den Konsumenten zugleich beseitigen. Eine Maschinerie, die nur angetrieben, nicht aber auch belastet wird, übertourt.”'” Adolf Dresens Beobachtungen waren deprimierend, er sah allgemeine „Originalitätshascherei“ und „einen universalen Provinzialismus, die eingeebnete Universalität des überall gleichen.” Zugleich aber hatte er den Traum von einer Erneuerung des „Lokaltheaters“, welches das Theater erneut politisieren könne, indem es wieder zur Angelegenheit der Polis wird. Als historische Vorbilder galten ihm unter anderem das Theater des antiken Athens oder das Theater des elisabethanischen Londons. War das eine heroische Illusion? ,,Totenerweckung“, wie Marx tiber die Rhetorik der Revolution schrieb, um ,,die neuen Kämpfe zu verherrlichen“ oder „weltgeschichtliche Rückerinnerung, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben””” Freilich, Revolution war keine in Sicht, als Adolf Dresen über die Möglichkeit einer Politisierung des Theaters schrieb. Mir scheint seine Rückbesinnung auf Aischylos und Shakespeare eine Erinnerung an die Möglichkeit von Theater zu sein, an die Möglichkeit des gesellschaftlichen Substrats, das nur über den Menschen gestaltbar ist. So war der radikal demokratische Ausblick Dresens mit einer seltsam konservativ anmutenden Bemerkung verbunden: „Das Theater mag antiquiert sein, doch ist es im selben Sinne antiquiert, wie es nach Günther Anders der Mensch selber ist.” Die Widersprüche der Entsubjektivierung In der wieder auftauchenden Rede oder dem Gerede über Theater und Politik ist von einem Nachdenken über „Menschen-Theater“ wie Dresen mit Bezug auf Strehler formuliert, nichts erkennbar.” Fragt man nach einem gemeinsamen Merkmal all der von mir zuvor gestreiften krisenhaften Erscheinungen, so lässt es sich vielleicht mit dem Begriff der Entsubjektivierung beschreiben. An zahlreichen neueren Dramen, aber auch an zahlreichen gegenwärtigen Inszenierungen alter Stücke kann man konstatieren, dass die Menschen gleichsam verschwunden sind. Es handelt sich um ein eigentümliches Phänomen, da die Menschen ja nicht faktisch verschwinden, wir sehen sie weiterhin agieren, hören sie reden. Dennoch existiert die Tendenz, dass das Leben der Menschen, die Situation zwischen den Menschen und damit auch die Fragen nach sozialen und geschichtlichen Zusammenhängen als Gehalt von Drama und Theater verschwinden. Damit schwindet aber auch ein wesentliches Bindemittel zwischen Bühnengeschehen und Zuschauer. Dies hat gesellschaftliche Gründe, die man mit dem traditionellen Begriff der Entfremdung beschreiben kann. Der Entsubjektivierung daher mit dem Ruf einer Rekonstruktion des ganzen Menschen begegnen zu wollen, wäre naiv. Ihr allerdings mit dem Theater vollends nachzugeben und nicht die Spannung des Subjekts in der Fremdbestimmung zu zeigen, schneidet die Möglichkeit ab, gesellschaftliche Konstellationen durchscheinen zu lassen und so mitunter politische Einsichten zu erlauben. Ist der Rekurs auf den Menschen dabei der eine Punkt, aus dem das Theater zu kurieren wäre? Ja und nein. Die Rede vom Menschen hatte in den Programmatiken des Theaters sehr verschiedene Bedeutungen. Man vergleiche etwa das Menschenbild in den Theaterschriften der Aufklärung mit den Mensch-Appellen des Expressionismus. Die Berufung auf den Menschen konnte im 20. Jahrhundert auch zur Nostalgie werden. Dann nämlich, wenn sie darauf hinauslief, vom Theater eine veredelte Darstellung des Menschen zu verlangen. Als moderne Version findet sich das in der Seelenmalerei ohne soziale Konkretion wieder. Die Illusion vom guten und ganzen Menschen oder die ästhetisierte Seelenlandschaft sind von der Wirklichkeit weit entfernt und bleiben oft hinter Gestaltungen zurück, die ins moderne Allegorische hinüberspielen. Dort sind die Figuren wie bei der alten Allegorie auch Personifikationen von etwas, nur daß dieses Etwas verworren, schillernd, mysteriés, nicht greifbar bleibt, was ein eindrucksvolles Abbild des Lebens der Subjekte in den Realabstraktionen unserer Verhältnisse sein kann. Auch Theater-Direktionen, deren Konzept sich im schicken Einkäufertum erschöpft, berufen sich in Hochglanzprospekten gerne auf den Menschen und umgehen damit gesellschaftliche Fragen. Der Mensch wird dort jedoch zur Fassade für den ästhetischen Markt der Allegorien. Moderne Allegorie und Veredelung. Dazwischen klafft eine Leerstelle. Aber diese ist in Wahrheit die Weite der möglichen Erkundungen von menschlichen Situationen in sozialen und politischen Zusammenhängen.