bens, fand rauschenden Applaus. Gefolgt von etwa 100 Mann
zog Hitler ab.
Unter dem Titel „Mißglückter ‚nationalsozialistischer’ Erobe¬
rungszug“ veröffentlichte Schneidmadl am 14. Oktober in der
„Volkswacht“ eine agitatorische Melange aus Bericht und Kom¬
mentar über die gesprengte NSDAP-Versammlung und beging
eine eklatante, politische Fehleinschätzung:
Der „nationalsozialistische“ Eroberungsfeldzug in St. Pöl¬
ten ist jämmerlich mißglückt und am 17. Oktober werden es die
Herren wieder schwarz auf weiß bekommen, wie wenig sie be¬
deuten.
Das Ergebnis der Wahl zur Nationalversammlung im Ge¬
richtsbezirk St. Pölten am 17. Oktober 1920 sah allerdings an¬
ders aus: Die NSDAP erreichte nämlich in diesem Wahlkreis
788 Stimmen und steigerte damit gegenüber der Wahl zur kon¬
stituierenden Nationalversammlung im Jahr 1919 ihre Stimmen
um 480 %. Dagegen fielen die Sozialdemokraten als Mehrheits¬
partei im Gerichtsbezirk St. Pölten von 17.024 (1919) auf 14.085
Stimmen zurück, verloren also über 17% ihrer Wähler.
Als Hitler am 14. März 1938 einen Nachmittag lang in St. Pölten
als Usurpator Zwischenstation machte, erinnerte er sich an sei¬
nen Retter Heinrich Schneidmadl und erkundigte sich aus¬
drücklich nach dessen Befinden. Aber nicht nur das, Heinrich
Schneidmadl als Mitglied der niederösterreichischen Landesre¬
gierung von 1927 bis zum Verbot der SDAP 1934 einer der
führenden Sozialdemokraten des größten österreichischen Bun¬
deslandes, wurde nicht verhört, nicht verhaftet, nicht in ein KZ
deportiert, sondern blieb völlig unbehelligt. Dafür wußte er aber
offenbar sehr gut, was er seinem hohen Mentor schuldig war,
und erklärte am 10. April 1938 in der Wienerwald-Rundschau:
Für mich ist der Anschluß die Erfüllung geschichtlicher Not¬
wendigkeit. Ich stimme am 10. April mit „Ja“ und bin gewiß,
daß meine Freunde und Gesinnungsgenossen es eben so hal¬
ten werden.
Aber die Fürsorge Hitlers für seinen Retter Schneidmadl ging
offenbar noch wesentlich weiter, wie der St. Pöltner Historiker
Siegfried Nasko herausgefunden hat:
So vermittelte ihm Reichsstatthalter Dr. Hugo Jury eine ne¬
benberufliche Stelle bei der Anker Versicherungs AG in Wien.
[...] Da die Versicherung als „kriegswirtschaftlich wichtiges
Unternehmen“ eingestuft war, bewahrte sich Schneidmadl auch
vor der Einrückung zum Zweiten Weltkrieg. 1943 wurde Schneid¬
madl bei Anker bereits als „Inspektor“ mit einem durchschnitt¬
lichen Monatsgehalt von 350 Reichsmark bezeichnet.
Selbstverständlich machte ein so anpassungsfähiger Mensch wie
Schneidmadl auch nach 1945 wieder schöne Karriere. Bereits
am 1. Mai 1945 stand er vor dem St. Pöltner Rathaus als Redner
einer Drei-Parteien-Kundgebung und gehörte der provisorischen
Staatsregierung als Unterstaatssekretär im Staatsamt für Öf¬
fentliche Bauten an. Ab August 1945 war er bis zur Rückkehr
Oskar Pollaks aus der Emigration der erste Chefredakteur der
Arbeiter-Zeitung nach dem Krieg. 1946 erklomm er abermals
den Posten eines Mitgliedes der niederösterreichischen Landes¬
regierung, den er bis 1949 innehatte, und war bis zu seinem Tod
1965 Vizepräsident der Landeselektrizitätsgesellschaft NEWAG,
der nunmehrigen EVN.
1964 hatte er noch die im parteiamtlichen Leitartikel-Stil ver¬
faßte Schrift „Über Dollfuss zu Hitler“ publiziert. Über seine
besondere Beziehung zu Letzerem verlor er darin allerdings kein
einziges Wort.
ist auf halben Wege stecken geblieben, dann die gekrönten
Häupter sind zwar gestürzt, aber die Herrscher der Gro߬
finanz sind noch nicht entthront. Mit den Liberalen Wirt¬
schaftsformen des Kapitalismus, bel denen sich hinter der
Freiheit die Grgste Sklaverel verbirgt, muß gebrochen
werden. Für die arbeitenden Massen gibt es aber keinen
anderen Weg aus der Hölle des Kapitalismus als die Straße,
die zum nationalen Sozialismus führt, weil es einen Inter¬
nationalen Sozialismus wohl in der Theorie, aber nicht in der
Praxis gibt. (Lehrreiches Beispiel siehe die Boykottblamage,
Friedens-, Generalstreik usw.) Die Völker sind nicht alle tür
den Sozialismus gleich reif. Sollen die fortgeschrittensten
Völker warten, bis der letzte Huzule und Kongoneger für den
Soriallsmus reif sein werden?
Ein Staat muß allen Völkern mit der Verwirklichung
des Sozialismus vorangehen, und dieser Staat wird
das neue Deutschland, der große sozialistische alldeutsche
Freistaat sein!
Darüber, wie die von den Juden begonnene und nach
Erreichung ihrer Ziele verratene Revolution in deutschem
Geiste fortgesetzt und beendet werden kann, werden
Mittwoch, 6. Oktober, %8 Uhr abends
DEF im Stadtsaale zu St. Pölten Sg
in einer Öffentlichen Vereins¬
Adolf Hitler, München u». Walter Gattermayer, Wien
der Führer der nationslsasislistischen Vorsitzender des Reichsverbandas der
Partei im Deutschen Reiche nationsien Gewertschatten Osterreichs
Parteigenossen, Hand. und Kopfarbeiter, Kleingewerbe¬
treibende und Ihr alle, die Ihr vom Ertrage Eurer Arbeit
lebt, kommt In die Versammlung!
Die Orksorganisation St. Pölten
der nationalsozialistischen Partei
Da wir weder Über Arbeitern abgenommene Erpressungs¬
beiträge, nodı über Juden- oder Kiöstergelder verfügen,
bitten wir alle Gesinnungsgenossen, zur Deckung der
Versammlungskosten eine kleine Spende zu leisten.
Juden und sonstige Nichtdeutsche werden gebeten, der
Versammlung fernzubleiben.
Ankündigungsplakat zur Hitler-Versammlung 1920 in St. Pölten.
Bildquelle: Wagram. Vom Mühlendorf zum bevorzugten
Wohnstadtteil St. Pöltens. Wagramer Aktivwochen. St. Pölten:
Magistrat der Landeshauptstadt St. Pölten — Abt. IV,
Kulturverwaltung, Volkshochschule o.J. (1997), S. 45
Manfred Wieninger, geb. 1963 in St. Pölten (NÖ). Zunächst
Studium der Medizin in Wien, dann diverse Tätigkeiten als Ka¬
minleger, Reiseleiter, Verschubarbeiter, Lokal- und Sportjour¬
nalist. 1993-98 Studium der Deutschen Philologie und Päda¬
gogik an der Universität Wien, Magister. Freischaffender Schrift¬
steller, lebt in St. Pölten. Bücher: Der dreizehnte Mann (Roman,
Hamburg 1999); Regen im Werkskanal (Gedichte, Mainaschaff
2000); Falsches Spiel mit Marek Miert (Roman, Reinbek 2001);
St. Pöltner Straßennamen erzählen (Innsbruck 2002).