Ich erinnere mich nicht, wann ich das erste Mal Jean Amery im
Fernsehen sah. Ich war noch Mittelschüler. Nie zuvor hatte ich
jemanden öffentlich so reden gehört. Der ältere Herr kokettierte
nicht mit dem Objektiv, lächelte nicht in die Kamera und flüch¬
tete nicht in Floskeln allgemeiner Selbstverständlichkeit. Er stütz¬
te während des Interviews den Kopf in seine Hand, rauchte da¬
bei eine Zigarette. Andere, die im österreichischen Staatsrund¬
funk der siebziger Jahre auftraten, schienen mir, im Widerglanz
der Lichtkegel nicht mehr ganz bei sich zu sein, ja, sich vor den
Augen der Nation aufzulösen. Jean Amery hingegen unterwarf
sich nicht der Macht des Mediums. Er strahlte Konzentration
aus und Klarsinn.
Einen Preis zu erhalten, der Amerys Namen trägt, berührt
mich auf eigenartige Weise, und nicht etwa bloß deshalb, weil
ich sein Denken verehre. Es mag ein wenig peinlich klingen,
aber obgleich er es gewiß nicht darauf angelegt hatte, eine be¬
stimmende Rolle für Pubertanten zu spielen, muß ich dennoch
bekennen, Jean Amery war mein Jugendidol.
Ich himmelte ihn an, ehe ich seine Analysen recht begreifen
konnte, und ich vergötterte einen Mann, der gegen Anbetungen
und gegen Dogmen, aber für die Skepsis der Aufklärung schrieb.
Ich blieb nicht alleine mit meiner kultischen Bewunderung. Wir
waren eine kleine Schar jüdischer Halbwüchsiger. Amery war
unser Held, unser Star. In der linkszionistischen Jugendbewe¬
gung diskutierten einige seine Essays, insbesondere seine Analy¬
se des neuen, des, wie er ihn nannte, „ehrbaren Antisemitismus“
gegen Israel. Wir fühlten uns durch ihn bestätigt. Saßen wir et¬
wa nicht zwischen allen Stühlen, stritten wir nicht mit rechten
Juden und mit linken Nichtjuden, stritten gegen die Siedlungs¬
politik und für Israels Existenzrecht? Wir schwärmten von den
Friedenskräften der israelischen Gesellschaft, doch davon woll¬
te in den Siebzigern kaum jemand irgendetwas hören. Amery
schien für uns Stellung zu beziehen und griff jene an, die im
Sinne der damaligen Mode Zionismus und Rassismus gleich¬
setzten.
Unsere Gruppe selbst war keineswegs frei von Dogmen und
simplen Parolen. Ein Gebot der Organisation lautete etwa, ein
Mitglied raucht nicht, trinkt nicht und bewahrt seine sexuelle
Reinheit. Wir schränkten die Regel mit ein wenig Wienerischem
Schmäh und jüdischer Chuzpe ein, indem wir versuchten, sie
neu zu interpretieren. Einer von uns sollte nicht trinken, ein an¬
derer die alkoholische Abstinenz übernehmen, und irgendwer
erfüllte, wenn auch unfreiwillig, den Rest des Gesetzes. Wir wa¬
ren eben Teenager, nicht älter als sechzehn oder siebzehn, als
uns die Kunde vom Selbstmord Amerys ereilte. „Der Selbstmord
in Salzburg“, schreibt Robert Schindel: „war Ende und Begriff
jener gefolterten Generation. Wir, die Nachgeborenen, wir le¬
ben sie weiter, ohne, so hoffe ich, ihren Tod zu teilen.“
Mich hatte Amerys Plädoyer für den Freitod fasziniert, und
wenn ich recht erinnere, war in der Jugendbewegung zwischen
mir und einem Freund, Michael Singer, ein Disput entbrannt;
Michaels Ablehnung des Buches wegen. Doch nie hatte ich da¬
mit gerechnet, der Ernstfall Könnte eintreffen, das Urteil voll¬
zogen werden. Ob Michael klarer gesehen und den Suizid vor¬
ausgeahnt hatte? Ich weiß es nicht, und kann ihn auch nicht mehr
befragen, denn nie hätte ich geahnt, daß acht Jahre später Michael
sich erschießen würde, als Vierundzwanzigjähriger, und gewiß
lag dies nicht an der Lektüre der Schrift „Hand an sich legen“,
wobei ich ebenso bezweifle, Michael habe sich bloß einer un¬
glücklichen Liebe wegen umgebracht, wie wir, seine Freunde,
einander vordergründig erklärten.
Was verstanden wir denn von Amerys Ausführungen? Ohne
Zweifel identifizierten wir uns mit dem Opfer und Widerstands¬
kämpfer, doch welches Recht hatten wir eigentlich dazu? Er be¬
richtete über die Tortur. In erster Person erzählte uns Améry:
„Und nun gab es ein von meinem Körper bis zu dieser Stunde
nicht vergessenes Krachen und Splittern in den Schultern. Die
Kugeln sprangen aus den Pfannen. Das eigene Körpergewicht
bewirkte Luxation, ich fiel ins Leere und hing an den ausge¬
renkten, von hinten hochgerissenen und über dem Kopf nun¬
mehr verdreht geschlossenen Armen. Tortur, vom lateinischen
torquere, verrenken: Welch ein etymologischer Anschauungs¬
unterricht!“
Was damals geschah, läßt sich nicht in mir geläufigen Kate¬
gorien fassen. Vor wenigen Jahren befragte ich einen alten Juden
in Wien zur Geschichte seiner Befreiung aus Auschwitz. Ein
kleiner, energischer Mann mit Glatze, der recht unsentimental
von der Zeit des Massenmords sprach. Seine Geschichte läßt
mich bis heute nicht los. Er war bloß seiner Mutter wegen im
nationalsozialistischen Wien geblieben. In Theresienstadt ver¬
liebte er sich in eine Frau und heiratete sie, obgleich jüdische
Hochzeiten längst verboten waren. Als er nach Auschwitz de¬
portiert werden sollte, bestand sie darauf, ebenfalls verschleppt
zu werden. Beide überlebten wie durch ein Wunder, fanden ein¬
ander in Wien wieder und nun ließen sie sich gesetzlich trau¬
en.
Als ich von diesem zweifach unwahrscheinlichen Glück und
dieser Liebe hörte, wagte ich erst nichts zu sagen, dann aber frag¬
te ich schüchtern, weshalb ich in seiner Wohnung kein Zeichen
seiner Frau sah. War sie gestorben? Der Alte meinte bloß: „Naja,
wir haben uns dreiundfünfzig scheiden lassen.“ Wieso denn, ent¬
fuhr es mir, den eben noch romantische Gefühle umwogt hat¬
ten, worauf der Greis sagte: „Sie war jähzornig. Hat immer nur
geschrien. Es war schwer auszuhalten.“
„Und vorher?“
„Aber ja, auch vorher schon“, versicherte mir der Überlebende
mit schelmischen Lächeln: „Ja, im Lager bereits. Aber damals
glaubten wir noch beide, es liegt an Hitler!“
Was bedeutete eigentlich Liebe im Angesicht der Gaskam¬
mern? Es scheint, daß jene Beziehung, von der mir der Zeitzeuge
sprach, die gemeinsame Todesgefahr zwar durchstand, nicht aber
den gewöhnlichen Alltag danach.
Das Spezifische an der Vernichtung ist gewiß ihre universale
Bedeutung, ist, daß sie einen Präzedenzfall darstellt. Die Erinne¬
rung stützt ein Wertesystem, denn wir leben in einem neuen,
globalen Babylon, und die Erinnerung an den nationalsoziali¬
stischen Massenmord ist unser Menetekel.
Erinnerung und Vergessen stehen jedoch nicht im direkten
Widerspruch, sondern bedingen einander, denn jedes Vergegen¬
wärtigen heißt, neu zu entwerfen, was einst geschah, bedeutet