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Wirft man im Matrikelamt der westukrainischen Kreishaupt¬
stadt Chernivtsy einen Blick in das Geburtsregister aus dem
Jahr 1861, so findet man am 1. April den Eintrag: „Joche¬
wed-Julcze, Tochter des Gutsverwalters Efroim Schätz und
der Pauline Baltinester.“ 82 Jahre später sollte der Name der
kleinen Julcze wieder registriert werden, freilich in einem Ver¬
zeichnis ganz anderer Art: „Julie Klaar, am 27. Mai 1943 in ei¬
ner Gruppe von 205 Personen aus Wien kommend im Konzen¬
trationslager Theresienstadt eingetroffen.‘” — Zwei Namen,
zwei Daten, die nichts gemein zu haben scheinen. Nichts weist
darauf hin, daß es sich bei der am 1. April 1861 in Czernowitz,
der Hauptstadt des österreichischen Kronlandes Bukowina ge¬
borenen Jochewed-Julcze Schätz und der am 31. Oktober 1943
im KZ Theresienstadt verstorbenen Julie Klaar um ein und die¬
selbe Frau handelt. Ihr Name, ihre Lebensgeschichte — deren
Eckdaten bereits auf ein für jene Epoche typisch mitteleuropä¬
isch-jüdisches Schicksal hinweisen — wären für immer der
Vergessenheit anheim gefallen, hätte sie nicht einen Enkel¬
sohn gehabt, der überlebt und ihr ein schriftstellerisches Denk¬
mal gesetzt hat.

Als George Clare Ende der sechziger Jahre daran ging, die Ge¬
schichte seiner Familie niederzuschreiben, um sie für seine
Kinder festzuhalten, kam er zur Einsicht, daß eine reine Fami¬
lienchronik für seine angelsächsisch erzogenen Nachfahren
wenig Erklärungswert haben würde.

So beschloß Clare, seine autobiographische Familienge¬
schichte vor den Hintergrund der politischen und gesellschaft¬
lichen Entwicklungen jenes Landes und jener Epoche nachzu¬
zeichnen, denen seine Vorfahren entstammten: des Österreich
der Jahre 1816 bis 1943. Als Clares Aufzeichnungen schlie߬
lich 1980 auch als Buch erschienen, gerieten sie zum Bestsel¬
ler.? Graham Greene befand es als „... ein bewundernswertes
Buch, das die Geschichte und das Persönliche sehr klug kom¬
biniert.“ Und Arthur Koestler schrieb über die von Clare por¬
trätierten Familienmitglieder: „Sie sind wie Schauspieler in ei¬
ner Operette von Lehär, die plötzlich eine griechische Tragö¬
die spielen müssen.“

George Clare, der sich beruflich als Journalist und Verlags¬
direktor etabliert hatte, war mit seinem ‚Erstlingswerk‘ ein
Stück Erinnerungsliteratur gelungen, das in seiner sprachli¬
chen Brillanz und seiner kongenialen Verquickung individuel¬
ler Schicksale und gesellschaftspolitischer Abläufe vor zwan¬
zig Jahren ziemlich singulär dastand und auch heute noch aus
der mittlerweile unüberschaubaren Menge vergleichbarer Pu¬
blikationen herausragt.

Es ist die Geschichte der Famillien Klaar und Schapira.

Die Familien meiner Eltern waren typisch für jenen Teil des
mittelosteuropäischen Judentums, der, beeinflußt von Aufklä¬
rung und wirtschaftlichem Liberalismus, Gleichheit mit seinen
Gastvölkern anstrebte und Teilhabe an ihrem Kulturgut
suchte. i
Es ist aber auch die Geschichte all derer, die fest daran
glaubten, daß ihre Schritte sie ins gelobte Land bringen

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würden, während sie in Wirklichkeit in der Vernichtung
endeten."

Als George Clare am 21. November 1920 als Georg Klaar in
Wien geboren wurde, hatte seine Großmutter Julie ihre Kind¬
heit als Jochewed-Julcze in der Bukowina, der östlichsten
Provinz der Habsburgermonarchie schon weit hinter sich ge¬
lassen.

Mit der Lebensgeschichte dieser Frau, die in einem entlege¬
nen Winkel des alten Kaiserreiches geboren wurde, im soge¬
nannten Goldenen Zeitalter Mitteleuropas lebte, das Alter von
zweiundachzig Jahren erreichte und im April 1943 im Lager
Theresienstadt starb, könnte die Geschichte nicht nur einer,
sondern mehrerer verschwundener Welten erzählt werden.

Spätestens mit dem Tod ihres Mannes, des Arztes Ludwig
Klaar, dem in Luegers Wien erst zwei Jahre nach des Bürger¬
meisters Tod der ihm zustehende Titel eines Stadt-Physikus
zuerkannt worden war, wurde Großmutter Julie zur unumstrit¬
tenen Patriarchin der Familie. Als verständnisvolle, wohlwol¬
lende Regentin, die ihre vier Söhne in ihrer Wohnung empfing
— wobei ihre altgediente böhmische Haushälterin als ‚Zeremo¬
nienmeisterin‘ fungierte — hat Clare sie in Erinnerung. Nur ein¬
mal im Jahr verließ sie für längere Zeit ihre Wohnung in der
Josefstädter Straße um sich auf Sommerfrische nach Bad Ischl
zu begeben. — Eine Wohnung, die noch in den dreißiger Jahren
das Flair und die muffige Geborgenheit der Gründerzeit aus¬
strahlte.

Als ich geboren wurde, waren die Habsburger fort, aber in
Großmutters Wohnung blieb, wie weit man auch die Fenster
öffnete, die dumpfe Wärme des verschwundenen Imperiums.
Sie machte ihr Zuhause gemütlich, sicher und unwandelbar.

Es war wohl auch diese vermeintliche Stabilität und heile
Vergangenheit, die Großmutter Julies Heim symbolisierte —
mit ihrem Fauteuil verschmolzen war sie selbst unverückbares
Inventar darin —, die den jungen Georg am 12. März 1938, als
jedwede Ordnung zusammenzubrechen schien, zu einem
spontanen Besuch bei ihr veranlaßte:

Großmutter war ganz ruhig. Sie wußte, was geschehen war,
und wußte es doch wieder nicht. (...) Gefühlsmäßig war sie den
aktuellen Ereignissen um mindestens ein Jahrhundert ent¬
rückt. „Schau, Georgerl“, sagte sie. „Ich bin so alt, ich habe
so viele unruhige Zeiten durcherlebt. So Gott will, werde ich
auch diese überstehen, bis meine Zeit gekommen ist.“ Ihre Ge¬
neration, aufgewachsen und gereift in der Blütezeit des euro¬
päischen Liberalismus, konnte sich das Böse zwar bis zu einem
gewissen Punkt durchaus vorstellen, etwa in der Art, wie Lue¬
ger Großvater Ludwig behandelt hatte, aber die Auswüchse
des Bösen, das an diesem Tag über Wien hereingebrochen
war, konnte sie sich nicht vorstellen, geschweige denn be¬
greifen.

Wie für so viele andere, war es auch für sie nicht faßbar, daß
ihre Existenz — scheinbar ein Musterfall deutsch-jüdischer
Kultursymbiose und österreichisch-jüdischer Assimilation —
von der ihr scheinbar so vertrauten Umwelt nicht mehr tole¬
riert werden könnte.