Fantasia ist das Kriegsspiel. Es gibt einen ständigen Wechsel
zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert von einem Kapitel
zum anderen. Ein Ineinandergreifen des individuellen und des
kollektiven Gesichtspunktes und gleichzeitig ein ständiges
Hin und Her zwischen lang zurückliegender und jüngerer Ver¬
gangenheit, um nicht zu sagen der Gegenwart. Und im Inneren
des ganzen, in meiner Biographie, mache ich eine Analyse,
fast an der Grenze einer Psychoanalyse, das Verhältnis der
Sprachen, der Tatsache, die französische und die arabische
Sprache zugleich zu haben. Das ist eine Identitätssuche. Es
konnte aber keine Autobiographie sein, denn ich stelle immer
wieder die Frage: Wie ist es möglich eine Autobiographie in
der Sprache des ANDEREN zu schreiben, nicht in der Sprache
der Mutter. ... Mein Buch ‚Schattenkönigin‘ greift ebenfalls
auf die Vergangenheit zurück, mit dem Unterschied, daß nicht
die historische Frage gestellt wird. Diesmal ist es die Frauen¬
frage und die Frage der Polygamie. ... Ich konnte diese Perso¬
nen von innen schildern, ohne Folklore und Exotismus.
Warum ich mit ‚Fern von Medina‘ das Quatuor unterbro¬
chen habe? Einfach weil ich damals die Hälfte meiner Zeit in
Algier und die andere in Paris verbrachte und Zeugin des Er¬
wachens und des Fortschreitens des Integrismus wurde, vor al¬
lem an den Universitäten. ... Die ersten Zielscheiben waren die
Frauen in ihrer Suche nach Freiheit und ihre Errungenschaften,
selbst wenn sie noch nicht zahlreich waren. ...Ich war schon in
voller historischer Reflexion über den Islam, aber nur für mich
selbst ohne reales Projekt. Ich fühlte mich verpflichtet, mich
auf meine Art zu engagieren. Und zwar als Schriftstellerin. Ich
habe zweieinhalb Jahre daran gearbeitet, mußte eine Menge al¬
ter Aufzeichnungen studieren, deren Sprache für mich sehr
schwierig war. ... Das Buch ist eine Chronik, die am Todestag
des Propheten beginnt. Jedes Kapitel behandelt die abrollen¬
den Ereignisse und im Mittelpunkt steht jeweils eine Frau. ...
Ich erwecke sie zum Leben, und man entdeckt, daß die Frauen
sehr präsent waren. Ich stelle keine These auf. Ich bin nicht So¬
ziologin, nicht Journalistin, ich sage den Frauen nicht, das habt
ihr zu tun. Aber ich möchte, daß die heutigen Frauen, ob sie
mein Buch nun auf französisch oder arabisch lesen, Lust be¬
kommen, dem Leben ihrer Vorfahrinnen nachzuspüren und
sich die Frage zu stellen, ob sie die gleiche Kraft haben. ...
Gleichzeitig will ich damit auch einer Behauptung der Integri¬
sten begegnen, daß wir nur ein westliches Modell haben.
Aber jetzt kehre ich zu meiner Arbeit an meinem Quatuor
zurück.“
Mit ihrem folgenden Buch „Weit ist mein Gefängnis“ (1995)
ist sie beim dritten Band ihres „Quatuor“ angelangt. Was Assia
Djebar über die gewünschte Einheit dieser vier Werke sagte,
ist bis jetzt umgesetzt:
„Sie folgen sich nicht, man kann sie also in beliebiger Rei¬
henfolge lesen, aber sie haben die selbe Struktur. ... Das Wich¬
tige dabei ist, daß die Bücher dual funktionieren, die Kapitel
sich wie Gegengewichte gegenüberstehen. Diese duale Struk¬
tur muß irgendwann einmal aufbrechen. ... Was dahinter
steckt: In der algerischen Identität gibt es ständig eine Kon¬
frontation mit dem anderen. In einem bestimmten Moment
muß man diese Konfrontation verlassen, um sich selbst zu fin¬
den. ... Wenn die vier Bücher fertig sind, wird man sie horizon¬
tal und quer lesen können.“
Die musikalische Tonalität von Assia Djebars Sprache
drückt sich manchmal eindeutig in den Titeln aus (z.B. „Ou¬
verture“). Sie bedient sich aber auch filmischer Erzähltechni¬
ken (erstes Motiv, zweites Motiv...), mit unerwarteten Schlag¬
lichtern, die sich in Geschichten und Situationen verbohren.
Sprünge, Einschnitte, Rückblenden finden sich in fast allen ih¬
ren Werken, jedoch nie zufällig, so sehr sie auf den ersten
Blick auch verwirren mögen.
„Weit ist mein Gefängnis‘ beginnt mit einer autobiogra¬
phisch anmutenden Liebesbeziehung, gefolgt von der archäo¬
logisch-historischen Studie einer bei Tunis liegenden puni¬
schen Ruinenstadt, die Suche von Djebars Mutter nach dem im
Befreiungskrieg engagierten und inhaftierten Sohn, Djebars
eigene Arbeit als Regisseurin, die Geschichte ihrer Großeltern,
ihrer Mutter, Kindheitserinnerungen... Auch hier stellt die Au¬
torin zwischen der Gefangenschaft der Frauen und der Ausrau¬
bung Nordafrikas durch die Kolonialherren beharrlich Paralle¬
len her. Diese kunstvollen Sprünge zwischen Zeiten und Räu¬
men, zuerst verblüffend, aber sehr schnell zu einem Ganzen
verwoben, kreisen um ein Thema: Gefangenschaft, Unterwer¬
fung, aber auch Aufstand, Aufbegehren. Das erschütternde
Schlußkapitel des Buches („Das Blut der Schrift‘) kündigt be¬
reits „Weißes Algerien“ (1996), eine Art Requiem, an.
Dieses Buch ist, wie die Autorin schreibt, „keine Erzählung
über den in Algerien vorrückenden Tod“, keine literarische
Trauerklage. Dennoch füllen Verstorbene, ihre letzten Tage,
den Band. Assia Djebar beschwört die Toten, vor allem drei
große Dichter, Opfer der islamistischen Fundamentalisten,
aber auch 15 SchriftstellerInnen und eine Schuldirektorin, eine
ihrer früheren Studentinnen, getötet oder an Krankheit bzw.
Unfall gestorben, unter ihnen auch Albert Camus. Aber ge¬
dacht wird auch der Toten des algerischen Unabhängigkeits¬
kampfes, ermordet oder hinweggerafft kurz bevor endlich die
Abkommen von Evian den Frieden brachten, und der Opfer
der Machtkämpfe im neuen unabhängigen Land, und der
sechshundert Leichen nach dem Jugendaufstand von 1988. So
wie Djebar mit den einstigen Kolonialherren abrechnet, so
geht sie auch mit den Nachfolgern ins Gericht, denen sie Ver¬
rat an den einstigen Idealen vorwirft. Die lange Kette der Ge¬
walt, vom Kolonialismus über die internen Machtkämpfe bis
zur Unterdrückung der Frauen, wird erneut aufgerollt, diesmal
härter, nüchterner und konkreter. Schließlich fühlt sich Assia
Djebar selbst bedroht, kann ihre alljährlichen Reisen in die
Heimat nicht mehr antreten.
Assia Djebar plädiert dafür, „Worte zu finden angesichts
der drohenden Katastrophe“, für „das Schreiben, um einem
taumelnden Algerien Ausdruck zu verleihen, für das manche
schon das Weiß des Leichentuchs bereithalten.“
Ihr letztes Werk „Nächte in Straßburg“ kehrt stilistisch teil¬
weise zu ihren Frühwerken mit klassischerer Erzählstruktur
zurück. Aber auch hier werden die neun glühenden Liebes¬
nächte der Algerierin Thelja mit dem Franzosen Frangois
durch verschiedene historische Stränge gekreuzt. Denn da ist
noch die ebenfalls aus Algerien stammende Jüdin Eve, die ei¬
nen Deutschen liebt, die Frauen Irma und Jacqueline, die Ge¬
schichte Straßburgs und des Elsass, der algerischen Gastarbei¬
ter. Das Porträt einer Stadt mit den Schatten seiner Vergangen¬
heit wird zu einem interkulturellen Experiment, bei dem die
Autorin wieder ihre Stärke beweist, historische Abläufe mit
persönlichen Erinnerungen zu verknüpfen.
Trotz der interessanten Schreibtechnik, z.B. den Verschie¬
bungen des Erzählstandpunktes, wirken in diesem Band aller¬
dings manche Stellen belehrend und aufgesetzt. Mag sein, daß
Assia Djebar, wie sie andeutet, mit ihrer direkten Erotik, die