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Behälter sind leer. Während der Blockade gibt es keinen Müll.
Alles kann wiederverwertet werden.

Wieder fällt mein Blick auf die spielenden Kinder im Hof.
Kreisende Farbflecken. Tanzende Fellmützen im fahlen Licht der
winterlichen Nachmittagssonne. Scheljas Mütze kann ich nicht
ausmachen. Ich gehe in unser Zimmer zurück und schaue auf die
Fabritschnaja Uliza hinunter. Aus dem Küchenfenster suchen
meine Augen den Nebenweg ab, der von der Fabritschnaja weg
an unserem Haus vorbei zur ehemaligen Kirche führt, in der jetzt
ein Munitionsdepot untergebracht ist. Keine Schelja.

„Kostik, hast du Schelja gesehen?“

Sinnlose Frage. Den ganzen Tag ist er im Zimmer gewesen.
Manchmal steht er auf und macht ein paar Schritte. Die Farbe
kehrt langsam in sein Gesicht zurück. Es ist nun gelb und nicht
mehr weiß.

Ich gehe hinunter. Mein Herz rast. Etwas schnürt mir die
Kehle zu. Meine Angst versuche ich, so gut wie möglich, zu
verbergen, aufrecht zu gehen, souverän und gelassen zu wir¬
ken, um die Kinder nicht zu erschrecken. „Kinder, wißt ihr, wo
Schelja ist?“ „Sie ist nicht mehr da“, sagt ein etwa sechs Jahre
altes Mädchen.

„Das sehe ich auch! Aber wohin ist sie gegangen?“

„Sie ist mit Borjka weggegangen‘“, sagt eines der Kinder.

Borjka, der Achtjährige aus dem Nebenhaus.

„Ich habe sie draußen auf der Straße gesehen“, erzählt einer
der Buben. Auf der umgeworfenen Mülltonne sitzt er wie auf
einem Schaukelpferd. „Sie haben mit einem Mann geredet,
Borjka und Schel]ja. Der hat mit den Händen gefuchtelt.“

„Was für ein Mann?“ flüstere ich entsetzt. Jetzt nur nicht
ohnmächtig werden!

„Bin großer.“

„Wie hat er denn ausgesehen ?“

„Groß.“

„Wie alt war er?“

„Ich weiß nicht.“

Ich wende mich ab. Wie kann man von einem Fünfjährigen
auch eine taugliche Personenbeschreibung erwarten. Ich haste
durch den Gang, der unseren Hof mit der Straße verbindet, hinaus
auf die Fabritschnaja. Fünfzig Schritte vor. Wieder zurück. Hun¬
dert Schritte in die andere Richtung. Keine Spur von Schelja...

„Haben Sie ein kleines Mädchen gesehen? Fünf Jahre alt.
Sie trägt einen dunkelblauen Mantel und ist in Begleitung ei¬
nes achtjährigen Buben.“ Meine Stimme bebt.

„Keine Ahnung. Tut mir leid“, sagt die Passantin. „Ich habe
auf niemanden geachtet.“

„Und Sie?“

„Ich bedaure. Wenden Sie sich doch an die Miliz.“

Aber noch gehe ich nicht zur Miliz, sondern wieder zurück
zum Haus und die Stufen hinauf in unsere Wohnung. Wie
schnell ich auf einmal laufen kann! Als hätte ich immer noch
ein Gewicht von zweiundsechzig Kilo und nicht einundvier¬
zig, kräftige Beine, Energie, Temperament wie vor dem Krieg
und wäre kein bedauernswerter Schatten. Ich nehme zwei Stu¬
fen auf einmal. Die Winterluft streicht eisig über meinen Hals.

„Ist Schelja dagewesen, Kostik?‘“ Mein Flüstern geht in ei¬
nen Hustenanfall über. „Nein, Mama.“

Verzweifelt lasse ich mich auf Kostiks Bett fallen. Ich
umarme meinen Sohn und vergrabe das Gesicht in der Decke,
die er sich bis unter das Kinn gezogen hat.

„Sie wird bestimmt bald wiederkommen, Mama!“ Kostik
streichelt meinen Kopf. „Schelja ist viel zu intelligent, um mit
einem Menschenfresser mitzugehen.“

30

Nun hat Kostik also das furchtbare Wort ausgesprochen, ein
Wort, das ich die ganze Zeit herausbrüllen wollte und doch
nicht über die Lippen gebracht habe, und ich springe auf, als
hätte es mir einen Stromschlag versetzt und laufe händerin¬
gend durch die Wohnung und hinaus auf den Gang, klopfe an
den anderen Wohnungstüren in unserem Stockwerk, sehe bei
den Nachbarn nach. Ergebnislos.

„Schelja!“ Ich presse einen Schrei aus mir heraus. „Schel¬
ja!!“ Ich blicke am gewundenen Stiegengeländer entlang, an
den Treppenabsätzen vorbei hinunter in das Erdgeschoß und in
den Keller, wo es dämmrig ist. Dämmrig und still.

Die bevorzugten Opfer von Menschenfressern sind Kleinkin¬
der. Sie geben zwar wenig Fleisch her, sind aber am leichtesten
zu überlisten, lassen sich dazu überreden mit einem „fremden
Onkel“ in seine Wohnung zu gehen, weil dort Süßigkeiten
warten. Größere Kinder werden schnell mißtrauisch. Die Klei¬
neren lassen sich wegführen und landen im Kochtopf.

In den Katakomben unter der Stadt befände sich der
Schwarzmarkt für Menschenfleisch, wird erzählt. Dort resi¬
dieren die Menschen- und Leichenfresserkönige, legendäre
Gestalten, deren Namen niemand kennt und die ihre Schergen
ausschicken. Solchen Schauermärchen glaube ich nicht, aber
der Kannibalismus ist nun einmal eine Realität, auch wenn
man darüber nur ungern spricht. Vor einem halben Jahr waren
die Kannibalen vielleicht noch Wissenschaftler, Ärzte, Ingeni¬
eure, Journalisten oder Schriftsteller. Sie haben über die Zu¬
kunft des Landes nachgedacht, sind zu Kongressen gefahren,
haben Dissertationen geschrieben oder als Feuerwehrleute
Menschenleben gerettet. Sie waren liebende Familienväter,
Philanthropen, Pazifisten oder unerbittliche Moralisten. Hätte
ihnen jemand gesagt, sie würden in nur wenigen Monaten klei¬
ne Kinder in Stücke schneiden und in Kochtöpfe werfen, hät¬
ten sie ihm ins Gesicht geschlagen.

„Oh, mein Gott, tu ihr das nicht an!“ brülle ich.

Das nicht an, das nicht an, dröhnt das Echo im Stiegenhaus.

„Nimm mich!“ schreie ich. „Nimm doch mich! Nimm
Naum, nimm meine Eltern, aber laß nicht zu, daß Schelja et¬
was geschieht. Daß Schelja DAS geschieht!“

Das geschieht, das geschieht, antwortet das Echo höhnisch.

Ich werde im Keller nachschauen, beschließe ich. Vielleicht
hat der Mann, den der Knirps gesehen hat, überhaupt keine Be¬
deutung, vielleicht wollten Schelja und Borjka zwischen den
Sesseln des Luftschutzkellers spielen und haben nicht auf die
Zeit geachtet.

Ich denke an Schamkin, einen ehemaligen Arbeitskollegen
meines Mannes, der noch vor einigen Wochen in derselben
Munitionsfabrik gearbeitet hat wie ich. Schamkin hat eine
Theorie des Kannibalismus entwickelt.

„Wenn wir den Krieg gewinnen wollen, Rosa Abra¬
mowna“, erklärte er mir einmal, „müssen wir den ethischen
Kodex, nach dem wir uns verhalten, vorläufig außer Kraft set¬
zen. Sie werden sicher zugeben, Rosa Abramowna, daß wir es
mit einem unzivilisierten Gegner zu tun haben und daß dieser
Krieg mit einer Unerbittlichkeit geführt wird wie kein anderer
in der Geschichte.“

„Auf was wollen Sie hinaus, Anton Iwanowitsch?“

„Es ist Ihnen bestimmt aufgefallen, liebe Rosa Abramowna,
daß sich heutzutage niemand mehr darüber empört, wenn auf
unschuldige Frauen und Kinder aus der Luft Bomben gewor¬
fen werden, die genau dafür, also ausschließlich dafür be¬
stimmt sind, eben diese Frauen und Kinder zu töten. Die Deut¬