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Es schneite am 31. Dezember 1926, Berlin war hell erleuchtet
und die Stimmung war schon am frühen Abend fröhlich. Silve¬
sterabend, jeder machte mit und „Prosit Neujahr“-Rufe waren
auf den Straßen zu hören. Papa und Mama waren bei Freunden
eingeladen, aber daraus wurde nichts, weil sie schnell in die
Charit€ mußten, wo ich um neun Uhr abends geboren wurde.
Die Charite gibt es jetzt noch. Ich kam ein paar Tage zu früh,
und meine Eltern meinten später, daß das symptomatisch ge¬
wesen sei: Immer wollte ich dabei sein, und so ein Silvester¬
abend war ein guter Anfang.

Wir wohnten in der Hasenheide, ganz in der Nähe eines gro¬
Ben Parks, wo man bei gutem Wetter sehr schön spielen konn¬
te. Meine Eltern fanden die Luft im Park gesünder als auf den
Straßen, und im Winter, wenn es Schnee gab, konnten wir ro¬
deln. Die ersten Jahre meines Lebens fielen also in eine Zeit,
die die Leute später als „normal“ bezeichneten.

Am Morgen des 30. Januar 1933 sah ich aus dem Fenster.
Es war der Tag, an dem die Nazis die Macht übernahmen und
die Straßen und Alleen besetzten. Man sah sie überall in ihren
einförmigen braunen Uniformen: in Autos oder auf Motorrä¬
dern, mit Fackeln, die Hacken zusammenschlagend, marschie¬
rend zu kriegerisch schmetternder Musik — immerzu marschie¬
rend. Immer lauter hörte man die Stiefel der SA, der Sturm¬
truppen der neuen Regierung. Jetzt marschierten sie durch die
Hasenheide und sangen „Deutschland erwache“. Papa am Fen¬
ster meinte, die SA-Jungens kämen nicht aus unserer Gegend.

„Warum sollten sie auch“, sagte Mama, „alles ist organi¬
siert. Die waren doch nicht zufällig alle in der Hasenheide und
auch noch in Uniform? Diese Verabredungen hat man schon
früher gemacht, und geübt haben die auch.“

Auf der Straße standen die Nachbarn, sie winkten, als sie
mich sahen. Ich wollte auch auf die Straße, aber nirgends sah
ich Kinder. Nun kam eine neue Gruppe mit Braunhemden und
sang:

... wenn Judenblut vom Messer spritzt

Dann geht’s noch mal so gut ...

Papa schaute, als ob er nicht glauben könnte, was er hörte,
aber Mama sagte: „Da kommt einiges auf uns zu.“

„Es ist ein dummes Straßenlied“, meinte Papa, „wenn wir
darauf reagieren, wird es lächerlich. Wir sind normale Bürger
in diesem Land, und die erregte Stimmung von heute ist mor¬
gen vorbei.“

Ein paar Monate später war mein erster Schultag. Ich hatte
mich sehr auf den Tag gefreut. Der Schulhof war riesengroß.
Dort standen wir zu Beginn und am Ende des Schuljahres, und
nachdem der Rektor eine kurze Ansprache gehalten hatte, san¬
gen wir „Deutschland, Deutschland über alles“ und danach
„Die Fahne hoch“. Das war neu.

Der große Hof war sehr geeignet für alle Aktivitäten, die
zum Turnunterricht gehörten. Der alte Gymnastiksaal dagegen
war klein. Reichsjugendführer Baldur von Schirach hatte ein
Sportprogramm für die „Deutsche Jugend“ eingeführt; Sport
war Hauptfach geworden. „Hart wie Kruppstahl“ sollten wir
werden, wir Kinder fanden das toll. Das Übungsprogramm
war gut aufgebaut, wir wurden nicht allzu müde, gute Leistun¬

gen fanden Anerkennung, und auch die Kleinen hatten ihre
Chance.

Gleich im ersten Schuljahr wurde der Erste Weltkrieg aus¬
führlich besprochen, man fragte, ob unsere Väter in der Armee
gedient und welchen Rang sie eingenommen hätten. Längst
nicht alle Väter hatten in der Armee des Kaisers gedient, und
schon gar nicht alle an der Front. Manche waren dienstunfähig,
andere beim Transport oder bei der Verwaltung gewesen. Zu
Hause wurde auch viel darüber gesprochen. Jedenfalls konnte
ich berichten, daß mein Papa zusammen mit anderen aus seiner
Klasse während der Sommerferien 1916 weiter zur Schule ge¬
gangen war, um im Spätherbst das Notabitur abzulegen und
sich gleich freiwillig zur Offiziersausbildung zu melden. Bei
der Frühjahrsoffensive 1917 an der Somme war er dabei und
erhielt für erwiesene Tapferkeit das „Eiserne Kreuz Zweiter
Klasse“.

In der Schule wurden diese Dinge ausführlich besprochen.
Wir Kinder erfuhren ziemlich viel über den Ersten Weltkrieg.
Alle Ereignisse dieser Zeit schienen wichtig zu sein. Papas
Auszeichnung war in meiner Klasse die höchste und erhöhte
meinen Status. Ich war ein deutsches Kind. Über Juden wurde
nicht gesprochen. Wir sangen Heimatlieder, wir sangen Nazi¬
lieder; was gegen Juden gerichtet war, sang ich nicht mit.

Zu Hause gab es immer viel Besuch, Juden und Nicht-Ju¬
den, Leute, die einander gern mochten. Meistens kamen sie am
Sonntagnachmittag zum Kaffee, und manche blieben bis nach
dem Abendbrot. Ich hatte all diese Onkel und Tanten recht
gern und blieb immer im Zimmer, um mir ihre Gespräche mit
anzuhören. Nicht alles begriff ich. Manchmal wurde ich weg¬
geschickt, aber es dauerte nie lange, daß ich unter irgendeinem
Vorwand wieder ins Wohnzimmer zurückkam und dann ein¬
fach blieb.

Es wurde viel über Politik gesprochen, ab und zu wurden
Witze erzählt und es endete immer damit, daß man dachte, die
Nazis würden nicht mehr lange am Ruder bleiben. Es ging aber
gut in Deutschland, und wer sollte sie denn vertreiben? Man
schrieb bereits das Jahr 1936; aktive Anti-Nazis hatte man
längst ermordet. Ich wußte, was ein Konzentrationslager war.
Wer dorthin geschickt wurde, kam selten lebend zurück. Papa
und Mama hatten keine Ahnung, daß mir all diese Dinge be¬
kannt waren. Manchmal glaube ich, das Leben in der Hitlerzeit
war für Kinder einfacher als für Erwachsene. Die älteren Leute
verglichen ihr Leben immer mit dem, was „früher“ war. Für
uns Kinder gab es kein „früher“.

Nicht jeder wartete auf das Verschwinden der Nazis. Ma¬
mas Bruder, der in Berlin ein Gymnasium besucht hatte und im
Ersten Weltkrieg bei den k.u.k. Ulanen gedient hatte, fuhr mit
seiner Familie nach Palästina. Mamas Schwager hatte sich in
Holland umgesehen, ob es dort Möglichkeiten für einen Kon¬
fektionär gab. Die gab es, und er sah gute Chancen, seinen
Kleinbetrieb zu vergrößern. Dann wollte er seine Familie, die
noch in Berlin wohnte, nachkommen lassen.

Doch nun hatte er sich anders entschlossen. Er kam nach
Berlin, um die Ausreise für seine ganze Familie zu regeln, und
zwar nach Palästina.

„Holland liegt zu nahe bei Deutschland, ich habe überhaupt

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