nach Auschwitz deportiert worden, aber durch glückliche Zu¬
fälle, die sich zuerst als Unglücke darstellten, und eine paral¬
lele Orientierung des KZ-Systems auf die Ausbeutung der KZ¬
Arbeitskraft ist Federn diesem Schicksal entgangen. Er flog im
Frühjahr 1942 aus seinem bislang sicheren Stubendienst. Aus
diesem Unglück mußte er eine Tugend machen, und er schaff¬
te es, als Maurerlehrling im Baukommando aufgenommen zu
werden. Darund um Buchenwald Rüstungsfabriken gebaut und
Maurer damit kriegswichtig wurden, wurden sie von der Depor¬
tation ausgenommen. Ernst Federn gehörte somit zu den ca. 200
„Jüdischen“ Häftlingen, die nach den Deportationen in Buchen¬
wald verblieben sind.°
Durch diese Deportationen und die Verschickung der Häft¬
linge in die 1942 entstehenden, meist gefährlichen Außenkom¬
mandos wuchs der sogenannten „Häftlingsselbstverwaltung“ ei¬
ne unglaubliche Macht über Leben und Tod zu. An einem fik¬
tiven Beispiel möchte ich diese Machtfülle verdeutlichen. Die
SS gab einen Befehl an Lagerältesten, Schreibstube und
Arbeitsstatistik weiter, der in etwa folgenden Rahmen hatte:
1.000 Juden am soundsovielten mit folgendem Zug von Weimar
nach — sagen wir — Auschwitz. Die Erfüllung dieses Befehls und
vor allem die Erstellung der Liste der zu Deportierenden lag in
den Händen der höchsten Funktionshäftlinge. Jeder dieser herr¬
schenden Funktionshäftlinge hat meist jene Gruppe, der er ent¬
stammte, geschützt; die Deportationsliste mit ihm fern stehen¬
den Mitgliedern anderer Gruppen gefüllt, wenn nicht gar wirk¬
liche, potentielle oder eingebildete „Feinde“ auf die Liste ge¬
setzt. Als Buchenwald das Zentrum eines weitverzweigten
Systems von Außenkommandos wurde, in dem meist mittels
Überarbeitung vernichtet wurde, erlebten die zentralen Funk¬
tionshäftlinge einen enormen Machtzuwachs. Sie disponierten
über Zehntausende und konnten vielfältigste Konflikte im Lager
Buchenwald durch „Abschub‘“ „lösen“.
Die überlebenden zentralen kommunistischen Funktions¬
häftlinge konnten sich nach der Befreiung nicht zu dieser von
der SS erzwungenen brutalen Rolle bekennen. Vor allem des¬
wegen, weil ihnen ihre eigenen Genossen aus dieser „Zusam¬
menarbeit“ einen Strick drehten. Viele ehemalige kommuni¬
stische Kapos wurden in den Schauprozessen in Nach¬
kriegsosteuropa wegen sogenannter „Kollaboration mit den
Faschisten“ zum Tode „verurteilt“. Es war zu wenig Raum, um
Verständnis für die Übernahme der Funktionsposten zu errei¬
chen, was ja im Interesse des Überlebens der eigenen Gruppe
geschehen war. Daß damit die Überlebenschancen der Mit¬
glieder anderer Gruppen minimiert werden mußten und „Fein¬
de“ unauffällig - im doppelten Sinne des Wortes — „beseitigt“
werden konnten, war nicht einzugestehen. Die ganze brutale
Realität der Funktionsposten konnte nicht analysiert werden,
sie mußte als heldisch reiner Akt des Widerstandes mytholo¬
gisiert werden.
Ernst Federn war nicht nur als „politischer Jude“ von der SS
bedroht, sondern auch von den kommunistischen Kapos als
„Trotzkist“. Viele seiner Genossen und Freunde wurden, selbst
wenn sie ,,Arier waren, in KZ und Todeslager auf dem Gebiet
des heutigen Polen deportiert. Auch Verschickungen in ge¬
fährliche Außenlager dürfen nicht vergessen werden. Erst vor
seinen vielfachen Gefährdungen ist die enorme Anpassungs¬
leistung Ernst Federns halbwegs zu ermessen, völlig zu ver¬
stehen ist sie nicht.’
Im Endchaos des KZ Buchenwald sind die Gefahren noch
einmal furchtbar kumuliert. Die dem Untergang entgegense¬
hende SS war besonders gefährlich und die Kapos hatten im
Chaos des Endes Rache zu befürchten. Daher wurde in der
Anomie des Endes eine relativ geregelte Machtübergabe von
der SS zu den Funktionshäftlingen vollzogen, was geheim zu
halten versucht wurde. Vielmehr wurde in der DDR später ver¬
sucht, diese Machtübergabe als Aufstand zu mythologisieren.
Dieser Aufstandsmythos diente auch dazu, der Übernahme des
Funktionshäftlingssystems durch die KPD-Funktionäre eine
Legitimität zu geben."
Wie anders argumentiert da der „Judenälteste“ des Wilnaer
Ghettos, der auch ein Funktionshäftlingssystem mit vergleich¬
baren Aufgaben zu leiten hatte, in einer Verteidigung seiner
Arbeit vor Intellektuellen und Künstlern des Ghettos im Jahre
1942:
„Viele von euch halten mich für einen Verräter — ... Ich,
Gens, führe euch in den Tod, und ich, Gens, will Juden vor dem
Tode bewahren. Ich, Gens, lasse Verstecke aufbrechen, und ich,
Gens, versuche Ausweise und Arbeit zu organisieren und Ver¬
günstigungen für das Ghetto zu erreichen. Für mich zählt jü¬
disches Blut und nicht jüdische Ehre. Wenn man 1.000 Juden
verlangt — gebe ich sie her, denn wenn wir Juden das nicht tun,
werden die Deutschen kommen ... und das ganze Ghetto wird
zum Chaos. Mit 100 rette ich 1.000. Mit 1.000, die ich ihnen
gebe, rette ich 10.000. Ihr, Leute des Intellekts und der Feder,
ihr rührt nicht an dem Schmutz des Ghettos. Ihr werdet das
Ghetto rein verlassen. Und wenn ihr das Ghetto überlebt, wer¬
det ihr sagen: wir sind mit reinem Gewissen herausgekommen.
Aber ich, Jakob Gens, wenn ich überlebe, werde ich schmut¬
zig herauskommen und Blut wird an meinen Händen kleben.
Und doch werde ich mich selbst dem Gericht stellen. Dem
Gericht der Juden. Ich werde sagen: Ich tat alles, um so viele
Juden wie möglich aus dem Ghetto zu retten und sie in die
Freiheit zu führen. Damit ein Rest Juden überbleibt, mußte ich
Juden in den Tod führen. Und damit Juden mit reinem Gewissen
herausgehen — mußte ich im Schmutz wühlen und handeln oh¬
ne Gewissen.“
Von Bernhard Kuschey ist 2003 die monumentale Studie „Die
Ausnahme des Überlebens. Ernst und Hilde Federn“ erschie¬
nen. Kuschey unterrichtet an einem Oberstufenrealgymnasium
in Wien und ist Mitglied der Redaktion von ZW.
1 Rudolf Vrba, in: Claude Lanzmann: Shoah. Düsseldorf 1986, 214.
2 Rudolf Vrba: Als Kanada in Auschwitz lag. Meine Flucht aus dem
Vernichtungslager. München 1999, 206ff.; Vrba, in: Lanzmann, Shoah,
2OAFF.
3 Vrba, in: Lanzmann, Shoah, 221.
4 Bernhard Kuschey: Die Ausnahme des Überlebens. Ernst und Hilde
Federn. Eine biographische Studie und eine Analyse der Binnen¬
strukturen des Konzentrationslagers. Gießen: Psychosozial-Verlag
2003, 325-402.
5 Kuschey, Die Ausnahme des Überlebens, 403-516.
6 Horst Jarka (Hg.): Jura Soyfer. Das Gesamtwerk. Wien, München,
Zürich 1980, 245f.
7 Kuschey, Die Ausnahme des Überlebens, 267-324, 525-539, 568¬
581 und 685-704.
8 Ebenda, 582-684.
9 Ebenda, 705-808.
10 Ebenda, 809-863.
11 Zitiert nach Doron Rabinovici: Instanzen der Ohnmacht. Wien
1938-1945. Der Weg zum Judenrat. Frankfurt/M. 2000, 419.