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Als wir im Oktober 2002 von dem agilen und temperament¬
vollen 81jahrigen Anton Walter Freud vor seinem Haus in
Oxted bei London Abschied nahmen und von ihm zum Wieder¬
kommen im nächsten Jahr eingeladen wurden, hätte niemand
erwartet, daß tragische Umstände dieses Wiedersehen verhin¬
dern würden. Herr Freud hatte unserer Bitte zu einem Gespräch
ohne zu zögern zugestimmt — und vielleicht mag dabei nicht
zuletzt der Umstand eine Rolle gespielt haben, daß er nicht zu
seinem Großvater, dessen Schatten wohl über der ganzen Fa¬
milie lag, befragt werden, sondern über seine eigenen Erleb¬
nisse Auskunft geben sollte.

Und diese waren erzählenswert genug. Die Lebensge¬
schichte von A.W. Freud denunziert einmal mehr die in Öster¬
reich wohl immer noch latent vorhandene perfide Legende vom
Emigranten, der es sich in den Cafes in der Ferne gutgehen ließ,
während in der ‚Heimat‘ die Bomben fielen, als gedankenlose
bis böswillige Verdrehung der tatsächlichen Ereignisse. Seine
Erlebnisse demonstrieren, daß die Ankunft in einem Exil/
Emigrationsland, selbst in einer derart gefestigten Demokratie
wie dem Vereinigten Königreich, keineswegs Sicherheit be¬
deutete, sondern oft mit neuen, anderen Todesgefahren ver¬
bunden sein konnte, Gefahren, die man entweder freiwillig auf
sich nahm oder die von xenophoben Strömungen in der Bevöl¬
kerung, populistischen Politikern und einer fahrlässig han¬
delnden Exekutive heraufbeschworen wurden. Und sie be¬
stätigen auch die Versäumnisse der Nachkriegsrepublik Öster¬
reich im Umgang mit den Vertriebenen.

Der freundliche alte Herr in Oxted war eigentlich ein gebür¬
tiger Wiener, Geburtsjahrgang 1921, und, wie bereits ange¬
deutet, der Enkelsohn von Sigmund Freud. Seine Wiener Her¬
kunft und Prägung konnte und wollte er bis zuletzt nicht ver¬
leugnen, und es war interessant zu beobachten, wie sie auch
nach mehr als 60 Jahren in Großbritannien immer noch seinen
Sprachduktus färbten. Die lokale Topographie seiner Jugend
war ihm offensichtlich nach all den Jahrzehnten immer noch
präsent, die des Wiens der 1920er und 1930er Jahre, hatte er
doch mit 17 nach dem „Anschluß“ zuerst das Gymnasium,
dann Wien verlassen müssen, wo ihm auf Grund seiner jüdi¬
schen Herkunft jede Menge Demütigungen, Verfolgungen und
wohl auch der sichere Tod gedroht hätten (wie er später seine
in Wien zurückgebliebenen alten Großtanten, die Schwestern
Sigmund Freuds, ereilte). Mit seinen Eltern und seiner Schwe¬
ster Sophie ging Anton Walter zuerst nach Paris und von dort
gemeinsam mit seinem Vater, dem Rechtsanwalt Jean Martin
Freud, nach London, wo der todkranke 83jährige Begründer
der Psychoanalyse mit seiner Familie Zuflucht gefunden hat¬
te. Anton Walters Mutter, Ernstine („Esti‘), und seine Schwe¬
ster (später eine renommierte Sozialwissenschaftlerin in den
USA) blieben hingegen in Paris, um später nach Amerika wei¬
ter zu flüchten.

Anton Walter bemühte sich, in England seinen Schulab¬
schluß nachzuholen, wobei er natürlich vorerst sicherlich durch
die Sprachschwierigkeiten gehandicapt war. Ansonsten kam
ihm das englische Schulsystem cher entgegen, da er sich dort
nicht so gefordert fühlte wie im österreichischen.

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Das Empfinden, in England in Sicherheit zu sein, erlitt aller¬
dings schon bald einen schweren Schlag. Infolge der Kriegs¬
ereignisse und der daraus resultierenden „Fifth-Column“¬
Hysterie hatte sich die britische Regierung entschlossen, die
Männer aus dem ‚feindlichen Ausland‘ zwischen 16 und 60
Jahren in Internierungslager zu stecken. Auch Anton Walter
Freud gehörte zu den Opfern dieser Maßnahme. Buchstäblich
von der Schulbank weg, unmittelbar vor seinem Mathe¬
matikexamen, wurde er arretiert und in ein Internierungslager
auf der Isle of Man gebracht, wo er, wie auch sein Vater, als
enem)y alien festgehalten wurde. Damit nicht genug, gehörte er
zu jenen Internierten, die noch einer besonderen Gefährdung
ausgesetzt wurden, indem sie per Schiff nach Kanada bzw.
Australien abgeschoben werden sollten. So fand sich Freud we¬
nig später auf dem Truppentransportschiff Dunera wieder, mit
dem die Internierten unter unwürdigen Bedingungen nach
Australien transportiert wurden. Wie gefährlich diese Schiffs¬
reise tatsächlich war, bewies die Versenkung des ebenfalls als
Transportschiff eingesetzten Dampfers Arandora Star, das kurz
zuvor von deutschen U-Booten torpediert worden war. Die
Dunera hatte mehr Glück - der Torpedo, der sie traf, entpupp¬
te sich glücklicherweise als Blindgänger — und sie erreichte
nach etwa zwei Monaten Australien, wo Freud per Eisenbahn
in das Lager Hay im Bundesstaat New South Wales gebracht
wurde. Obwohl es ihm dort — unter den gegebenen Verhält¬
nissen — nicht schlecht zu gehen schien, empfand er vor allem
den Mangel an Information über das Weltgeschehen, aber auch
die Ungewißheit über das Schicksal seiner Familie als größte
Belastung. Allerdings tat sich nach beinahe einem Jahr die
Chance zur Rückkehr nach England in Form einer Kommission
auf, die zu bestimmen hatte, wer Australien verlassen durfte.
Freud befand sich tatsächlich unter den wenigen Auserwählten
und ging Ende August 1941 in Liverpool an Land. Dort vor die
Wahl gestellt, entweder in das Auxiliary Military Pioneer Corps
einzutreten oder wieder interniert zu werden, entschied er sich
natürlich für ersteres. Später sollte er im Zusammenhang mit
diesen Erfahrungen davon sprechen, daß das Bedrückendste für
ihn in dieser Phase das Gefühl des Ausgegrenztseins, die an¬
scheinend fehlende gesellschaftliche Akzeptanz im Zufluchts¬
land, war.

Freud wurde also Soldat im Pioneer Corps, wo er verschie¬
denen körperlichen Tätigkeiten wie dem Ausheben von Gräben
und dem Bau von Wellblechbaracken nachgehen mußte. Dies
ging ungefähr eineinhalb Jahre so, bis er sich, gemeinsam mit
einigen anderen deutschen und österreichischen Kameraden für
„gefährliche Tätigkeiten“ angeworben, nach einem Aufnahme¬
gespräch in der Londoner Baker Street plötzlich in einer Spe¬
zialausbildung wiederfand. Die Schulung in eigens dafür ein¬
gerichteten Trainingsschulen umfaßte nicht nur anstrengende
körperliche Übungen, Schwimmen und Nahkampftechniken,
sondern auch den Umgang mit Explosivstoffen und Funkge¬
räten, wofür Anton Walter, der spätere wireless telegraphy ope¬
rator seiner Gruppe, ganz besonders befähigt war, aber auch
geheimdienstliche Übungen etc., sodaß die Teilnehmer eigent¬
lich damit rechneten, später für gefährliche Kommandoeinsätze