nicht danach. Sie versuchten zu reden, aber die Worte stolper¬
ten über das Geld. Weil sie wegschaute, hielt er sie für gekränkt
und rang um Fassung, weil er ihr so etwas angeboten hatte.
Nach über einer halben Stunde Stottern und Zögern legte er die
Hand auf das Geld, um es vom Tisch zu nehmen. Sie war fast
gleich schnell und legte ihre Hand auf die seine. „Nicht so
schnell“, sagte sie. „Ich nehme kein Geld, ich bin keine Hure,
aber ich hätte nichts gegen eine neue Wohnung.“
Er war aus der Schweiz aufgebrochen, um im Osten eine
Frau zu finden, und ihm war klar, dass das Geld und die
Schweiz stärkere Argumente waren als seine Person. Fünfzig
Jahre, Falten, schlechte Zähne und spärliche Haare überzeug¬
ten keine jungen Frauen. Denn nur für junge war er bereit, auch
etwas zu investieren, ja, es war eine Art Investition, die rentie¬
ren musste, kurz- oder mittelfristig. Bei Nora hatte er sofort ge¬
wusst: „Das ist sie“, und dass es ihr nichts ausmachte, Rita zu
hintergehen, kam ihm gelegen.
Durchs Fenster kam das Licht der einzigen Strassenlampe
weit und breit. Nora war ein schwarzer Fleck auf dem weissen
Laken. Im Türspalt flimmerte die Unterhaltung der Eltern, der
Fernseher, den er ihnen bei seinem zweiten Besuch geschenkt
hatte. Er hatte selten so zufriedene Menschen gesehen, mit dem
Schnapsglas in der Hand hatten sie um das neue deutsche Gerät
herum gestanden und auf den anbrechenden Wohlstand ange¬
stossen. Im Zimmer verteilt waren die Dinge ihres Lebens,
Mutters Stickereien, Familienbilder, Noras Abschlussdiplom an
der Wand und ihre Puppen von früher in einer Ecke des Sofas,
Nicus Flugzeugmodelle auf dem Schrank.
Die Mutter legte ein Makrameetuch über den Fernseher und
stellte eine Puppe drauf. So wurde das Gerät in die Familie ein¬
geführt und adoptiert, ein bisschen wie Urs, dem sie von Anfang
an den Eindruck vermittelt hatten, ihn zwar nicht zu lieben, sich
aber sehr darum zu bemühen. Sie drückten ihn an sich, küssten
ihn, umarmten ihn kräftig und veranstalteten solch ein liebe¬
volles Chaos um ihn herum, als ob sie ihn Tag für Tag feierten.
Wenn er genug hatte, ging er in Noras Zimmer, wenn er her¬
aus kam, waren sie wieder da, als ob sie hinter der Tür gewar¬
tet hätten.
Lächelnde Gesichter schoben sich vor sein eigenes, sie bo¬
ten ihm Krautwickel, Auberginensalat, Mohnkuchen und lies¬
sen erst von ihm ab, wenn er erschöpft zum zwanzigsten Mal
klar machte, dass er nichts wolle. Nur Nora hatte bald nicht
mehr gelacht. Sie sass bloss da inmitten der Heiterkeit, immer
gut angezogen und bestens geschminkt. Später hatte sie: „Ich
liebe dich nicht“ geflüstert, in diesem Bett und im Dunkeln, als
ob bei Licht die Worte hässlicher gewesen wären. Doch häss¬
licher waren sie im Dunkeln und in der Stille der Wohnung ge¬
wesen, als sich der Blick an keine Gegenstände hatte heften
können und die Ohren an keinem Klang. Die ersten Male war
sie ihm an die Wäsche gegangen und hatte sich bemüht, eine
perfekte Liebhaberin zu sein, und das war ihr auch gelungen.
Später war ihr nur das Schweigen gelungen.
Draussen, im Licht der Strassenlampe, tummelten sich
Stechmücken. Sie waren hier, so nahe an der Donau, eine wah¬
re Plage. Die Menschen lagen übereinander und nebeneinan¬
der in ihren Wohnungen, starrten ins Dunkle. Wenn sich das
Summen näherte, schlugen sie wie Verrücktgewordene die Hän¬
de vors Gesicht. Obwohl sie ihre Balkone zugemauert und an
ihren Fenstern Fliegengitter angebracht hatten, fanden die Mü
cken das Schlupfloch.
Sie klatschten alle gemeinsam im Wohnzimmer und in der
Küche beim Essen, nach Mitternacht klatschte jeder auf seiner
Seite des Bettes. Am Anfang mit Lust und Überzeugung, da¬
nach liessen sie es einfach geschehen, schlugen weich mit der
Hand vor dem Ohr, auch aus anderen Zimmern und Wohnungen
kam das Klatschen immer seltener, sie schliefen ein und die
Insekten setzten sich auf das warme, atmende Fleisch und ge¬
wannen den Kampf gegen die Menschen ein weiteres Mal. In
der Stadt gab es nur noch Schnarchen und Summen.
Einmal sogar hatte sich aus dem Klatschen ein Rhythmus er¬
geben, Noras Vater und Mutter klatschten drüben, dann er und
Nora hier, bis sie bald des Klatschens wegen klatschten, auf bei¬
den Seiten der Tür in Lachen ausbrachen und von neuem an¬
fingen. Dann erschien Noras Vater auf der Türschwelle, sein
Umriss, er bückte sich leicht, zog den Kopf ein, hob die Hände
und klatschte los, zuerst langsam dann schneller, während er
vor ihrem Bett hüpfte und mit den Hüften schwang. Sie alle
schauten verblüfft dem jungalten Mann zu, feuerten ihn aber
bald an und klatschten mit. Als der Vater erschöpft in den Sessel
fiel, wurde das Klatschen ein Beifallklatschen und niemand
dachte daran, die Fenster zu schliessen, wie man es in den Acht¬
zigern getan hätte, wenn man in den eigenen Wänden ein biss¬
chen Leben wollte. Leben und reden. :
„Schwiegersohn“, meinte der Vater keuchend, „ich habe mit
Nicu viele Flugarten geübt. Den Helikopterflug, den Vogelflug,
den Jumboflug. Ich habe ihn hochgehalten und wir sind durch
die Wohnung geflogen. Aber einen Flug haben wir nicht geübt:
den Mückenflug. Dabei waren diese verdammten Mücken die
freieren Menschen. Sie konnten stechen, wo sie wollten, ein¬
mal bei uns, dann bei den Jugoslawen drüben. Welche Armee
schiesst schon auf Mückenschwärme? Manchmal stand ich bei
uns auf dem Balkon, es war wieder Stromausfall, drüben aber
waren alle Lichter an und ich hatte nur einen Trost: die Mücken.
Auf sie war Verlass. Sie nahmen sich das Blut der Serben vor
und liessen unseres in Ruhe. Ich stellte mir vor, wie die verzwei¬
felt klatschten, während wir eine ruhige Nacht haben würden.
Ich sagte dann: „Gute Nacht, liebe Nachbarn“, und ging zu¬
frieden schlafen. Stellen Sie sich vor, wie wir hier lebten, wenn
wir anderen mehr Mückenstiche wünschten als uns selbst.“
Weil keiner lachte, auch Urs nicht, dem Nora alles übersetzt
hatte, fing der Vater wieder an: „Der Stechmückenflug, wie
sieht der wohl aus?“ Er stand auf, streckte die Arme über den
Kopf wie früher, wenn er Nicu festhielt. Nicu, der jetzt fast
schon zwei Meter gross und Tankstellenwart geworden war.
Und er lief durch den Raum mit dem Tankstellenwart-Nicu oder
mit dem Klein-Nicu, so klar war es nicht. Er schüttelte und reck¬
te sich und summte, so wie er dachte, dass solch ein Flug aus¬
sah und sich anhörte.
Diese Nacht war jetzt lange her. Urs wusste aber, dass er
auch dann aufgebrochen wäre, um im Osten Europas eine Frau
zu finden und sie nach Hause zu führen, wenn man ihm die
Bettkante und die hässlichen vier Worte vorausgesagt hätte.
Denn das zerdrückte Leben hier war besser als die leere
Wohnung zu Hause. In der jeder Schritt widerhallte. Und jede
in Aussicht gestellte Bettkante war besser als ein ganzes lee¬
res Bett. Er würde sie schon überzeugen, er würde sich bemü¬
hen und lernen, was sie brauchte und was nicht, und wenn das
alles nicht half, würde die Schweiz helfen.
Urs fiel aus den Gedanken in den Schlaf und im Schlaf auf
den Boden.
„Das war ein kurzer Flug‘, sagte cr auf Englisch und mas¬
sierte sich die Schulter. „Zu kurz für deinen Vater, glaube ich.“
„Wieso sagst du das?“, fragte Nora.
„Ich habe mich erinnert, wie er durchs Zimmer geflogen ist.“