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Auszug aus dem Roman „Khawar“.

Durch die schneebedeckten Straßen Teherans wälzte sich der
Autoverkehr. Khawar kam beim Gymnasium an, die Ein¬
gangstür stand noch offen. Einige Spätankömmlinge eilten aus
der Fußgängerzone und reihten sich vor dem Gebäude in die
Gruppe der Wartenden ein. Im Vorhof blieb Khawar stehen und
sah nach oben. Schneekristalle schmolzen auf ihrem Gesicht.
Auf dem Fahnenmast war stolz die grün-weiß-rote Fahne ge¬
hißt, mit dem Emblem „Löwe und Sonne“ darauf, von Schnee¬
flocken umtanzt.

Die schöne, beruhigende Mischung der Farben bewegte
Khawar. Sie wußte nicht, warum sie das tägliche Hissen der
Fahne so rührte, ihr Herz schlug heftig bei dem Anblick. Ihre
Gedanken gingen zwischen der unruhigen Vergangenheit und
dem Unheil, das sich in der Gegenwart ankündigte, hin und her.

Die Schülerinnen waren im Hof angetreten. Alle trugen die¬
selbe blaue Uniform mit Spitzkragen. Sie sangen das Kö¬
nigslied: „Es lebe der König und die Königsfamilie...“

Außerhalb der Reihe stand Ganji, die Direktorin, mit ernstem
Gesicht, in einen dicken Pelzmantel gehüllt. Wie immer hatte
sie ein Holzlineal in der Hand. Den Mantelkragen hochgestülpt,
schritt die Reihen der Schülerinnen ab. Sie verstand keinen
Spaß, wenn ein Mädchen lustlos oder nicht mitsang. Für jedes
Wort, das eines ausließ, setzte es zehn Linealhiebe, und es mu߬
te eine halbe Stunde ohne Mantel draußen im Schnee stehen.
Das Singen stand unter allen Bedingungen auf dem Tagespro¬
gramm. Khawar mochte das tägliche Fahnenhissen, aber sie
fühlte sich wie in einer Kaserne.

Durch die beschlagenen Fenster des Klassenzimmers konnte
man den weißverschneiten Schulhof erkennen. Einige Mädchen
standen beim Ölofen, wärmten sich an ihm die Hände. Sie hat¬
ten die Stiefel ausgezogen und sie im Halbkreis vor den Ofen
gestellt. Die Luft war schwer. Der Atem der siebenundzwan¬
zig Schülerinnen vermischte sich mit dem Geruch von Öl und
feuchtem Leder.

Khawar betrat die Klasse. Kaum hatte sie die Tür hinter sich
geschlossen, stach ihr der unangenehme Geruch in die Nase.
Sie ging durch die Bänke zu einem der beiden Fenster und öff¬
nete es. Dann setzte sie sich und begann: „Wie ihr wißt, haben
wir heute einen Aufsatz zu schreiben. Ich habe das Thema
Heldenmut gewählt. Vielleicht werdet ihr euch wundern, war¬
um wir nicht eines der üblichen Themen bearbeiten. Da ihr aber
bereits vernünftige junge Damen seid, nehme ich an, daß ihr
damit sachgerecht umgehen werdet. Die Arbeiten werde ich zur
Beurteilung mit nach Hause nehmen. Eine davon, die beste,
werde ich nächste Woche vorlesen.“

Aufgeregt blickten die Mädchen einander an. Langsam öff¬
neten sie ihre Taschen, nahmen Papier und Schreibzeug heraus.
Da spürte Khawar plötzlich einen noch stärkeren Ölgeruch. Es
war nicht der Geruch des Ofens. Khawar wunderte sich, ging
in der Klasse umher, um dem Gestank auf die Spur zu kommen.
Kaum war sie an der ersten Bank vorbei, bemerkte sie auf der
anderen Seite der Klasse das auffällige Benehmen einer Schü¬
lerin. Es war Irandocht, die nun ganz rot im Gesicht wurde und
beschämt zu zittern begann. In den Händen hielt sie ein in Öl

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gebadetes Schulheft. Erstaunt und interessiert ging Khawar auf
Irandocht zu, sah sie ihr in die Augen. Das Mädchen hatte an¬
scheinend vor, den Vorfall zu erklären, aber Scham und Tränen
hielten es zurück; es blickte zu Boden. In den ölig schim¬
mernden Händen hielt sie das aufgeschlagene Heft. Bedrängt
von den fragenden Augen, die von allen Seiten auf sie gerich¬
tet waren, suchte Irandocht nach einer Erklärung. Geflüster und
Gekicher wurden lauter.

Khawar machte dem Treiben eine Ende. „Seid ruhig, Kinder!
Beruhigt euch! Irandocht, sag mir, wo hast du gestern deine
Hausaufgabe gemacht? Wie konnte es nur passieren, daß dein
Heft derart in Öl schwimmt?“

Mit dünner, bebender Stimme antwortete das Mädchen:
„Heute nacht schlief ich wie immer neben dem Ofen auf dem
Boden, weil es dort am wärmsten in unserem Zimmer ist. Weil
ich am Morgen meine Schulhefte nicht lange suchen wollte, leg¬
te ich sie unter den Ofen. Ich vergaß, daß der alte Ofen undicht
ist. Unten bildet sich immer eine kleine Öllacke. Mein Vater
sagt, wir müssen nur noch durch diesen Winter kommen, näch¬
stes Jahr können wir vielleicht einen gebrauchten, aber noch
funktionierenden Ofen kaufen, wenn er billig ist. Für meine
Mutter ist das sehr beschwerlich. Sie muß am Morgen den In¬
halt des Tabletts, das unter dem Ofen liegt, wieder in den Ofen¬
tank leeren. Das muß sie so machen, um zu sparen.“

„Hast du keinen besseren Aufbewahrungsplatz für deine
Schulsachen?“, fragte Khawar.

„Wir wohnen zu fünft in dem kleinen Zimmer“, erklärte
Irandocht und errötete abermals. „Meine Eltern, ich und mei¬
ne zwei jüngeren Brüder. Mein Vater ist Wachmann bei einer
großen Ölgesellschaft. Seit fünfzehn Jahren verspricht man ihm
eine städtische Wohnung. Er ist schon ganz verzweifelt und
meint, solange es diese Beamten in ihren hochangesehenen
Stellungen gibt, wird keiner von uns armen Arbeitern je eine
städtische Wohnung bekommen. Wissen Sie, bei uns hat nie¬
mand einen eigenen Platz für seine Sachen. Ich bin glücklich,
daß ich überhaupt die Möglichkeit habe zu studieren. Mein
Vater sagt, er selber habe leider nicht die Möglichkeit gehabt,
etwas zu lernen, es sei aber kein Leben ohne Schreiben und
Lesen. Er bemüht sich mit allen Mitteln, uns Kindern das Stu¬
dium zu ermöglichen, damit wir in Zukunft nicht so wie er von
den Mächtigen unterdrückt werden können.“

„Gut“, sagte Khawar, „du kannst nichts dafür. Gib deine
Sachen in die Tasche zurück und wasch dir die Hände. Wenn
du zurück bist, gebe ich dir ein neues Blatt Papier, dann kannst
du wie alle anderen weitermachen. Mach dir keine Sorgen!“

Khawars Blick wanderte über die Köpfe ihrer Schülerinnen,
die das Gespräch stumm mitangehört hatten. Mit erhobener
Stimme ermunterte sie die Kinder. „Worauf wartet ihr? Ihr wißt
doch unser heutiges Aufsatzthema. Heldenmut. Also los, beeilt
euch!“

Es war gegen Abend, Khawar saß am Küchentisch. Der Aschen¬
becher war voll mit Zigarettenstummeln. Halb sieben, und sie
hatte erst drei Aufsätze durchgelesen. Obwohl sie den Mädchen
versprochen hatte, daß nur sie allein die Arbeiten lesen werde,
niemand anderer solle sie in die Hände bekommen, spürte
Khawar den Schatten der Selbstzensur in den Sätzen. Gern