Zeichnung von Olivia Kaiser
Das Aufsatzheft zitterte in Masumehs Händen. Nie zuvor war
es so still im Klassenzimmer gewesen. Masumehs Lippen wa¬
ren ausgetrocknet. Sie warf einen fragenden Blick zu Khawar,
die nachdenklich am Lehrertisch saß, den Kopf in die Hände
gestützt. Als Khawar Masumehs Blick spürte, stand sie auf und
sagte: „Alle eure Aufsätze sind gut; ich habe mich aber für die¬
sen entschieden.“
Still saßen die Mädchen da. Unbehagen und Furcht standen
in ihren Gesichtern. Sie warteten auf beruhigende Worte der
Lehrerin, aber in diesem Augenblick läutete die Schulglocke.
Eines Tages, kurz bevor Khawar mit dem Unterricht begann,
klopfte der Schulwart und betrat die Klasse. Er ließ Khawar
nicht zu Wort kommen, sagte, Frau Direktorin Ganji wolle drin¬
gend mit ihr sprechen, sie müsse zu ihr in die Direktion.
Khawar ging mit Herzklopfen in die Direktion. Direktorin
Ganji stand mit kaltem, gleichgültigem Blick neben ihrem
Schreibtisch, ein Blatt Papier in der Hand. Sie kam Khawar ei¬
nige Schritte entgegen. Ohne sie anzublicken, drückte sie ihr
ein Blatt Papier in die Hand: „Nehmen Sie das! Das ist für Sie
gekommen. Das haben Sie sich selbst zuzuschreiben. Die Mit¬
teilung kommt von der staatlichen Verwaltung. Sie sind nicht
mehr berechtigt, als Lehrerin zu arbeiten, nie mehr! Sie sind hier
gewesen, um zu lehren, und nicht, um unsere Kindern mit un¬
erlaubten Gedanken zu vergiften. Leute wie Sie, die glauben,
die Welt nach ihrem Gutdünken verbessern zu müssen, haben
keinen Platz in diesem Land. Verlassen Sie augenblicklich die¬
ses Gymnasium, und zwar für immer!“
Die letzten Worte der Direktorin konnte und wollte Khawar
nicht mehr hören. Wie in Trance ging sie zur Garderobe, zog
ihren Mantel an. Dann stand sie vor dem Schulgebäude. Einen
letzten Blick schenkte sie den Mädchen, die ihr aus den Fens¬
tern mit fragenden Augen nachblickten.
Sie schickte sich an, das Gelände der Schule zu verlassen.
Ihr schwindelte, es wurde ihr schwarz vor den Augen, beina¬
he verlor sie das Gleichgewicht. Sie fühlte sich so schwer, als
trüge sie ihre ganze Klasse auf den Schultern. Wie ein Wurm
bohrte sich ein Name in ihre Gedanken: SAWAK.
Im Hof blieb sie noch einmal stehen, Tränen in den Augen.
Die Fahne war gehißt. Ihr wurde kalt, die Knie begannen zu zit¬
tern. Eine dünne Eisschicht bedeckte die Straße, die Passanten
gingen langsam und vorsichtig. An einigen Stellen lagen Schnee¬
haufen. Es waren etwa fünfzig Meter bis zur Busstation. Aus
Furcht zu stürzen setzte Khawar mit Bedacht Schritt vor Schritt.
Plötzlich, so schnell konnte sie gar nicht schauen, bremste ein
schwarzer Mercedes neben ihr, und zwei kräftige Männer mit
dunklen Brillen zerrten sie in den Wagen. Khawar wollte schrei¬
en, aber wußte, daß niemand ihr helfen würde. Im Wagen wur¬
de sie nicht losgelassen, von beiden Seiten drückten sich Ellen¬
bogen in ihre Rippen. Sie wollte etwas sagen, doch ein Stoß in
die Seite brachte sie zum Schweigen. Man verband ihr die
Augen. Khawar verlor das Bewußtsein. Nur mehr gedämpft ver¬
nahm sie das widerliche und zugleich siegessichere Lachen der
Manner. Zwei Jager, die ein gefangenes Wild zur Schlachtbank
führten.
Als Sasan abends nach Hause kam, wunderte er sich, daß kein
Licht brannte. Er vermißte den Duft seiner Frau. Suchte in al¬
len Räumen, sogar im Keller, doch er fand keine Spur. Er rief
Sorab an, Khawars Vater, aber bei dem war sie auch nicht. Voll
Angst riefen die Eltern im Gymnasium an. Dort meldete sich
niemand. Auch Freunde und Bekannte wußten nichts von
Khawars Verbleib. Sasan befürchtete einen Unfall, erkundigte
sich in allen Spitälern, vergebens. Zu guter Letzt sah er keinen
Ausweg mehr, nur die Polizei konnte helfen. Aber auch die hat¬
te keine Ahnung, versprach jedoch, nach ihr zu suchen.
Täglich war Sasan auf der Polizeistation. Erst nach einer
Woche wußten die Beamten, wo sich Khawar befand. Die
freundlichen und hilfsbereiten Männer wirkten verändert. Mit
gehässiger und verächtlicher Stimme sagte einer zu ihm: „Ihre
Frau ist in der Frauenabteilung des Ghasr-Gefängnisses. Die
Regierung kann Menschen mit einer solch gegnerischen
Einstellung nicht dulden. In absehbarer Zeit werden Sie sie
nicht zu Gesicht bekommen, sie hat Besuchsverbot.“
Zwei Monate später konnte man in einer Teheraner Tages¬
zeitung unter dem Titel VERMISST folgendes lesen:
Seit kurzem wird ein Mädchen namens Masumeh M., das
sich zuletzt auf dem Heimweg von ihrer Schule befunden hat¬
te, vermißt. Die Direktorin gab gegenüber der Polizei an, das
Mädchen habe seit längerer Zeit ein Verhältnis mit einem
Jungen gehabt, sei nicht mehr Jungfrau und könne und wolle
deshalb nicht mehr zu seiner Familie zurückkehren. Zusammen
mit dem Jungen habe es die Stadt verlassen.
Khawar indessen wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt, aber we¬
gen der Entwicklung der politischen Lage im Lande nach ein¬
einhalb Jahren freigelassen.
Während ihrer Haftzeit durfte sie insgesamt dreimal Besuch
erhalten. Man beschuldigte sie weiter und stellte ihr immer neue
Fragen. Sie wurde gefoltert. Die Tage ihrer Gefangenschaft wa¬
ren lang, schmerzhaft und hoffnungslos.
Der Roman „Khawar“ wird im im Verlag der Theodor Kramer
Gesellschaft erscheinen. — Nahid Bagheri-Goldschmied, ge¬
boren 1957 in Teheran (Iran), arbeitete als Journalistin und stu¬
dierte persisch-arabische Sprach- und Literaturwissenschaft an
der Teheraner Universität. Seit 1980 lebt sie in Österreich. Sie
ist Schriftstellerin und freie Journalistin für muttersprachliche
Exil-Medien in Europa und in den USA. Bücher: Kantate der
Liebe (Lyrik); Mohnrote Zeichen (Lyrik); Treffen im Herbst
(Lyrik); In der Fremde (Roman; deutsch-persisch, Judenburg
1994); Khawar (Roman, Schweden 1999). Beiträge in zahl¬
reichen Anthologien in Österreich, Deutschland, Schweden,
Frankreich, USA. 2001 Lyrikpreis „Schreiben zwischen den
Kulturen 2001“ (Verein Exil, Wien).