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In der Novelle Maria am Gestade, Geschichte eines irrsinnigen Musikanten (München, 1925, MG) ist es die Gestalt des begnadeten, spätromanischen Künstlers, der in konsequenter Anwendung der eigenen Theorie seine Beziehung zur Realität aufgibt: Ist diese Sehnsucht zu groß, bleibt sie unerfüllt, wird sie der Seele unerträglich, dann bricht sie die Bewußtseinskontrolle. Der dadurch vollständig irrsinnig Gewordene ... ist in dieser fiktiven Erfüllung geradezu glücklich. (MG) Ähnlich selbstenttäuscht, wenn auch aus ironischer Distanz, geriert sich der junge Gelegenheitspianist im Phantasie über das Vorspiel zum „Fliegenden Holländer“ (München, 1925, FH): Am selben Morgen verkaufte der Student Edomir mit einem fürchterlichen Fluch seinen „Holländer“ (Partitur und Klavierauszug). Für den Erlös besorgte er sich von einem bertrunkenen Werkelmann eine antiquarische Drehorgel und spielte darauf an diesem wie an allen folgenden Tagen wild wie ein Wahnsinniger „Hupf mei Mädel!“ (FH) Der Schauplatz von Maria am Gestade ist die gleichnamige Kirche im Zentrum Wiens. Die authentische Beschreibung der Atmosphäre des Ortes legt nahe, daß Ernst Schafer tatsächlich als Kind in unmittelbarer Nähe der Kirche wohnte. Während der Erzähler/Autor in Legende und Phantasie verborgen bleibt, erscheint er in der Rahmenerzählung Maria am Gestade als das erzählende Ich selbst. In der Rahmenhandlung stellt Schafer die Jugenbegegnung mit dem Musikstudenten Bandler, jenem „irrsinnigen Musikanten“, dar. Fasziniert hatten ihn an diesem jungen Menschen besonders die „wirren 24 Thesen“ des am „Chaos“ und den „Dissonanzen“ der Zeit Leidenden. Geprägt vom damals modischen philosophischen Monismus, kreisen diese Thesen um eine ursprüngliche Einheit der Menschheit und der Natur. Nach Bandlers geistigem Zusammenbruch will der Erzähler ihm zu einer nachträglichen Rechtfertigung verhelfen, indem er das Tagebuch seines inneren Leidensweges veröffentlicht. Etwa gleichzeitig mit Maria am Gestade muß das verschollene Judaskreuz entstanden sein. Es ist anzunehmen, daß mit der Titelfigur der biblische Judas Ischariot gemeint ist, über den Bandler in Maria am Gestade sagt: „Da Judas den Herrn verriet, was wollte er dabei? Wollte er ihn erniedrigen, um ihn zu erhöhen? Dachte er, die Bande würden fallen, in die ihn die Häscher schlugen ? ... Oder war er nur Jude? “ (MG) Judas ist hier der Gesetzesjude, Anführer einer Rebellengruppe gegen den ‚falschen‘ Propheten von Nazareth, dem er sich aber doch tief verbunden fühlt. Sein persönliches Kreuz wäre sein eigenes Judentum, das ihn zum ewigen Suchen und Nichtfinden des Friedens verurteilt. „Als Erste geboren, werden sie [die Juden, A.S.) als die Letzen sterben und ihren Weg vermag niemand zu ändern.“ (MG) In der Verbindung von ‚Judas‘ und ‚Kreuz‘ erscheinen politischer Aktivismus und christlicher Pazifismus. Hier sind Schafers eigene Beteiligung an der sozialrevolutionären Bewegung, besonders seine Verbindung zu dem Wiener Rotgardisten und Juden Leo Rothziegel zu spüren. Nach Selbstaussagen hatte der 20jährige Ernst Schafer dem prominenten Revolutionär einmal zur Flucht verholfen. Sicher ist der Mord an Rothziegel in Budapest, 1919, einer der Gründe für Schafers Enttäuschung und Abwendung vom Sozialismus gewesen. Judaskreuz wäre damit ein Gleichnis für Rothziegels aktiven Einsatz, sein Opfertod am falschen Kreuz des Weltfriedens. Der Auftakt zu Schafers nächstem Lebens- und Schaffensabschnitt, seiner ‚Wienflucht‘, ist seine Taufe in Berlin. Zwar gleicht sie Heines „Entreebillet in die europäische Kultur“, zeigt aber auch ehrliches Verlangen nach gnädiger Versöhnung mit einem all-liebenden Gott. „Denn immer sehnt sich die Menschheit hoffnungslos nach dem Wissen vom Letzten und Göttlichen, nach der Heimat der Seele, nach dem Eingehen in den Vater. “ (MG) Literarisch existiert für diese Zeit lediglich Marias Erinnerung an das Manuskript Heinrich von Plauen. Titel und Eingangszeile mögen einen Eindruck von Schafers seinerzeitiger Gedankenwelt geben. Die Gestalt des Hochmeisters des Deutschen Ritterordens, des großen Glaubensstreiters von Tannenberg, war im deutschsprachigen Gebiet besonders durch Ernst Wicherts gleichnamigen historischen Roman von 1885 populär geworden. Fast kontrapunktisch dazu wirkt hier die Position des Erzählers/Autors, die dieser in „Du warst mein Schicksal, Heinrich von Plauen ...“ ausdrückt. Zeigt sich nicht auch hier das glücklose Nacheifern eines Idols, das in seinen Aktionen gleichzeitg zum Verfechter und Verräter des Glaubens wurde? Während des rapiden Anwachsens eines extremen deutschen Nationalismus in den 1920er Jahren war Ernst Schafer mit zwei charismatischen Katholiken in direkter Verbindung. Zum einen war es der bekannte Berliner soziale Aktivist und Priester Carl Sonnenschein, der ihn auch taufte. Zum anderen war es der selbst vom Protestantismus zum Katholizismus konvertierte ehema