schung hat aber keinen
Beweis dafür gefunden.)
Gleich Chaplin sieht sich
Ernst Schafer als Jude,
der Aufnahme in die
nicht-jüdische Welt und
Gesellschaft zu finden
hofft. Gleich Chaplin
sieht sich Schafer als
Unterhaltungskiinstler, ei¬
nem Genre, in dem Juden
traditionell ein gewisses
Maß an Talent und Erfolg
zugestanden wird. Doch
selbst hier muß er sehen,
wie ein Chaplin auch als
Jude immens erfolgreich
ist, während er, obwohl
getauft, immens erfolglos
bleibt. Besonders neidet
er Chaplin dessen Rezeption im antisemitischen Deutschland.
Ich verstehe nicht, warum der kleine Jude im
Lande Goethes am meisten verehrt wird. (CH)
Im ganzen präsentiert sich Charlie Chaplin als christliche
Erbauungsschrift im Stil einer Kalendergeschichte zur Advents¬
zeit. Die „geneigte Leserschaft“ wird angehalten, aus dem ak¬
tuellen Filmangebot besonders Chaplins Filme zu wählen, da
diese das Leben darstellen, wie es sei, und wertvolle, auf die
christliche Weihnacht vorbereitende Beispiele für Demut und
Bescheidenheit enthielten. Und doch endet die Erzählung nicht
in der Vorfreude auf die Heilsbotschaft, sondern in Angst und
Vereinsamung: Der Erzähler ist weiterhin Fremder im fremden
Land, Jude unter Nicht-Juden. Die freudige, christliche Advents¬
botschaft erfährt eine deutliche Umdeutung. Sie wird zur her¬
beren Botschaft des kommenden Gerichtes, dem jüdischen Bu߬
und Versöhnungstag Jom Kippur verwandt. Hier steht der jü¬
dische Sohn, der sich seiner Verantwortung für den Mitmen¬
schen zu entziehen suchte und sich nun zur Rechenschaftslegung
aufgerufen fühlt:
Wehe uns, wenn unsere letzte Stunde schlägt ... wenn wir er¬
kennen müssen, daß wir aufeinem Berg stehen ... auf dem Elend
derer, die wir so tief bekümmert haben. (CH)
Größere innere Konflikte bereitet dem Erzähler/Autor sein
eigenes Künstlertum. Zwar bewundert er Chaplin, lobt seine
Kunst als groß und edel, und doch kann er sie nur als eben jü¬
dische, d.h., als Gebrauchskunst, anerkennen. „Chaplin zeigt
die Not unseres irdischen Daseins. Aber er schafft sie uns nicht
aus der Welt.“ Als wahrhaft „höchste Kunst“ kann allein die
christlich-abendländische Kunst der Shakespeare, Dürer, Beet¬
hoven und insbesondere Wagners gelten, dessen Parsifal ein ein¬
ziges „gläubiges Gebet“ sei. Die spontanen Sympathien Scha¬
fers mögen zwar bei Chaplin und der jüdischen Klein- und
Unterhaltungskunst liegen, sein inneres küntlerisches Verlangen
hofft jedoch weiterhin auf Trost, Gnade und Erlösung von sei¬
ten christlich-abendländischer Hochkultur.
Pater Morlion, der Charlie Chaplin angeregt hatte, wahr¬
scheinlich auch übersetzte, zweifellos jedoch als Geistlicher und
Volksbildner beeinflußte, war allen Zeugnissen nach eine im¬
ponierende Persönlichkeit, ein mitreißender Redner von gro¬
Ber Uberzeugungskraft. Mit Schafer teilte er ein frühes sozial¬
revolutionäres Engagement, das er später dementierte. Auch be¬
teiligte er sich maßgebend an der ‚Vlaamsen Beweging‘, die für
die politische und kulturelle Selbstbestimmung Flanderns kämpf¬
te. „Du warst mein Schicksal...“
Die zweite Erzählung aus Schafers Flandernjahren ist das
Rätsel von Heideborcht, 1935/36 im Luxemburger Wort er¬
schienen. Auch hier hat Pater Morlion Pate gestanden. Die
Erzählung ist eine Sherlock-Holmes-Parodie, die ihren ‚Fall‘
vom England der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ins Flan¬
dern der 1920er Jahre verlegt. Der große Detektiv Sherlock
Holmes und sein Begleiter Dr. Watson, hier umbenannt in
Herlock Sholmes und Dr. Tawson, sind auch hier die souverä¬
nen Individuen, die sich berechtigt dünken, das Gesetz nach
ihrem jeweiligen Dafürhalten zu wenden.
Gott sei es gedankt, ich bin kein Beamter. Ich bin nicht ver¬
pflichtet ... den Missetäter der gerechten Strafe zuzuführen. (RH)
Der Täter der Erzählung ist der moralisch radikale Landwirt
Jan de Rechter, „ein Fanatiker, ein flämischer Typ ... unbere¬
chenbar, will er ein Ideal durchsetzen“. Sein Idealismus besteht
darin, daß er eine naive Landgemeinde vor unmoralischen Fil¬
men schützen will, seine Tat darin, daß er in seinen Mitteln —
er erscheint als ‚Gespenst‘ um eine Lehre zu erteilen - zu weit
geht, Panik verursacht und Menschen und Besitz gefährdet.
Im ganzen folgt Ernst Schafer in seiner Erzählung dem bri¬
tischen Muster, leistet aber in einem Punkt einen persönlichen
Beitrag. Schon Sherlock Holmes liebte es, sich gelegentlich zu
maskieren, um als „Mann aus dem Volk“, etwa als Priester, Buch¬
halter, Fischer oder Installateur, incognito zu operieren. Für sei¬
nen Herlock Sholmes kreiert Schafer die Maske eines jüdischen
Hausierers. Verkleidet als ein „Herr Mosessohn aus Polen“ mit
„schmierigem Kaftan“ und „lustigen Geschichtlein“ verschafft
sich Sholmes Zugang zu einer nicht nur untergeordneten, son¬
dern außerhalb der Gesellschaft stehenden Gruppe, der des eu¬
ropäischen Judentums, hier östlicher Prägung. Dabei ist be¬
sonders zu vermerken, daß der britische Sherlock Homes nach
einem solchen Mimikry unberührt in seine eigene, höhere Welt
zurückkehrt, Schafer aber in seinem Sholmes einen Gewandel¬
ten beschreibt. Sholmes, der große Erzieher hat eine Selbst¬
erziehung bewirkt. Seine eigene Maske öffnet ihm die Augen
und gibt ihm, dem Helden des kühlen Intellekts, den Anstoß zu
wahrer Menschlichkeit.
Zuviel Leid hat er [Sholmes als Hausierer, A.S.] gesehen, oft
der Gerechtigkeit geholfen, aber vielleicht noch öfter Leben ver¬
nichtet, einem trockenen Paragraphen zuliebe. (RH)
So ist es Schafer in seinen wichtigsten Schriften, Maria am
Gestade, Charlie Chaplin und Das Rätsel von Heideborcht ge¬
lungen, äußerlich ein christlich-abendländisches Programm zu
erfüllen, das aber, so willig und gewissenhaft es auch befolgt
wurde, doch immer wieder den Juden in ihm anspricht, einen
derer, ,,... die selbst zweitausend Jahre nach des Heilands leib¬
lichem Tod noch immer auf einténigen, regennassen StraBen
ziehen, obdachlos, erschöpft, mit zerrissenen Kleidern...“ (CH)
Aus den belgischen Akten geht hervor, daß Schafer im Oktober
1935 des Landes verwiesen wurde. Gründe: Einmischung als
ausländischer Journalist in innere Angelegenheiten der natio¬
nalflämischen Politik, dazu Unfähigkeit, sich und seiner Familie
in Belgien einen Unterhalt zu sichern. In zwei Schreiben an die
zuständigen Behörden bittet Pater Morlion persönlich um
Velängerung von Schafers Aufenthaltserlaubnis. Sie wird ihm
verwehrt. Ein behördlich nicht gemeldeter, von Morlion ar¬
rangierter Aufenthalt in Luxemburg mit Beschäftigung beim
Luxemburger Wort folgt. Von 1936 bis 1937 ist die Familie in
Prag registriert, wo Maria 1937 zur Welt kommt. Ob Schafer