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Oscar Scherzer hatte es vergleichsweise noch gut, denn er konn¬
te weiterhin seine Schule besuchen. Doch der überwiegende Teil
der jüdischen Schüler wurde, wie bereits erwähnt, in die jüdi¬
schen Sammelschulen „umgeschult“ wie es im Amtsjargon hieß.
Nur ganz wenige Direktoren weigerten sich, dieser Anordnung
nachzukommen und zögerten den Ausschluß ihrer jüdischen
Schüler bis Ende des Schuljahres hinaus, d.h., die Schüler konn¬
ten dort auch noch die Reifeprüfung ablegen. Die Schule des
Frauenerwerbverein am Wiedner Gürtel etwa hatte solch eine
couragierte Direktorin, und auch die Wenzgasse in Hietzing. Aber
das waren natürlich Ausnahmen.

Man mag sich kaum vorstellen, was die „Umschulung“ für
die Kinder und Jugendlichen bedeutete, vor allem für jene, die
noch in die Unterstufe gingen, also die Zehn-, EIf- und Zwölf¬
jährigen: Da war die Trennung von liebgewonnen Freunden, der
oft sehr lange Schulweg, auf dem sie allen erdenklichen anti¬
semitischen Diskriminierungen ausgesetzt waren bis hin zu tät¬
lichen, lebensgefährlichen Angriffen, die großen Klassen (ei¬
ner Notiz des Amtsdirektors der israelitischen Kultusgemeinde
vom Mai 1938 ist zu entnehmen, daß es sich in einem Fall um
80 Schüler handelte'*), und schließlich waren da die Verachtung
und der Spott der neuen Lehrer, denen sie nicht selten preis¬
gegeben waren. Ich habe einen Katalog gefunden, in dem ein
Lehrer mit Rotstift und in großen Lettern das Wort Jude mit fünf
Rufzeichen über die ganze Seite eines Klassenkatalogs ge¬
schrieben hatte, Ausdruck unbändigen antisemitischen Haßes.

„Eines Morgens gegen halb zehn Uhr“, erinnert sich Oscar
Scherzer, “ ... hörten wir in Abständen von einer Minute, die
uns schon bekannten Sprechchöre: ‚Die Juden müssen raus, wir
wollen reines Haus‘. ‚Unsere ehemaligen Kollegen wollen die
Schule stürmen‘, sagte ein Schulkollege dem Professor, ‚sie sind
in HJ-Uniform, an die 100 Mann.‘ Das Geschrei wurde so laut,
daß der Unterricht in allen Klassen unterbrochen werden mu߬
te. Die Lehrer verließen die Klassen, gingen ins Konferenzzim¬
mer und überließen uns dem Schicksal und den mit Ehren¬
dolchen bewaffneten ‚Kollegen‘. Daraufhin berieten sich die
Schüler, wobei die Sorge den EIf- und Zwölfjährigen galt, die
den Nazis, wenn es denn zu einer Schlägerei kommen sollte,
körperlich weit unterlegen waren. Also beschlossen sie, einen
Schüler zum Direktor zu schicken und ihn um Schutz zu bit¬
ten. Doch wenig später kam der Turnprofessor, ein bekannter
Nazi, und sagte zu der versammelten Klasse: ‚Haben sie nicht
verstanden, sie sollen das Gebäude verlassen, aber schleunigst!‘
... ‚Burschen‘, sagte einer, ‚es bleibt uns nichts anderes übrig,
als im geschlossenem Zug ruhig das Gebäude zu verlassen. Wenn
wir angegriffen werden, wehren wir uns natürlich, das ist klar.‘
‚Wir gehen voran‘, sagten die Mädchen ... Der Direktor stand
bei der Tür. Er konnte die HJ nicht dazu bewegen, den Weg frei¬
zumachen. Von rückwärts kam der Turnprofessor und trieb uns
an. Die vier Mädchen unsrer achten Klasse waren an der Spitze.
Wasser kommandierte: ‚Ganze Abteilung marsch, zu viert ab¬
fallen, nach verschiedenen Richtungen und so rasch wie mög¬
lich nach Hause. Mutig Jungen! Also los‘“! Die Mädchen öff¬
neten die Tür. Klasse für Klasse verließen sie die Schule. „Von
unserer Klasse“, so Scherzer, „wurde Feuerstein verletzt. Unter
den Burschen der Fünften hatten zwei Stichwunden davonge¬
tragen. Mehrere kleine Jungen wurden verprügelt. Ein schwer
herzkranker Schüler der sechsten Klasse, Rosenfeld, wurde be¬
wußtlos geschlagen ... In welcher Stimmung wir von da an in
die Schule gingen, kann man sich leicht vorstellen. Einige Eltern
ließen ihre Kinder überhaupt nicht mehr in die Schule gehen,
andere begleiteten sie und holten sie auch ab.“

Tatsächlich waren bereits im April von insgesamt 4.000 jüdi¬
schen Mittelschülern etwa 1500 nicht mehr zum Unterricht er¬
schienen. Wieviele bereits damals geflüchtet waren, ist unklar.
Was die Flucht anlangt, so war es die israelitische Kultusge¬
meinde, die für die Auswanderung der Jugendlichen nach Pa¬
lästina Vorsorge traf: So berichtete am 1. Juli 1938 Dr. Leo Men¬
czer, Leiter des Schülerreferates im Palästinaamt, von über 2.450
Anmeldungen zur Jugendalijah, hiervon 838 von Mittelschülern
im Alter von 14-17. Eine Umfrage, die er in der letzten Juliwoche
unter 3.000 Mittelschülern abgehalten wurde, ergibt, daß von
mehr als 400 Vierzehnjährigen nur 15% an einer Fortsetzung
ihres Studiums interessiert sind. 750 Schüler, davon 530 der
Untermittelklassen, wollen ihr Studium fortsetzen, wohingegen
30% der Mittelschülerschaft die Zeichen der Zeit verstanden
haben und zu Handwerk, weniger zu Landwirtschaft um¬
schichten wollen. Mehr als 40% der Unterstufe und beinahe 60%
der Oberstufe wollen nach Palästina auswandern.’

Oscar Scherzer aber war, nach dem er seine Reifeprüfung
im Gymnasium Zirkusgasse abgelegt hatte, zunächst nach Paris
geflüchtet, wo er seine Erfahrungen zu Papier brachte. 1940
sandte er das Manuskript an die Harvard Universität, wo man
bereits damals Quellen über den Nationalsozialismus zu sam¬
meln begann. Es ist ein wirkliches Glück, daß Oscar Scherzer
sich im Jahr 2000 doch noch entschloß, seine Memoiren end¬
lich als Buch zu publizieren.

Vortrag, der im Rahmen der Begleitveranstaltung zur Ausstellung
„Wien, Stadt der Juden — Die Welt der Tante Jolesch“ am 12.
Oktober im Jüdischen Museum, in Wien, gehalten wurde. „Die
Sonderreihe aus der Forschungswerkstatt“ mit dem Titel „Die
Wiener jüdische Geschichte und Kultur der Zwischenkriegszeit
im Spiegel neuerer Forschungen“ wurde von Evelyn Adunka
organisiert. Der Aufsatz beruht auf ersten Zwischenergebnissen
des Projekts „Zur Geschichte der Vertreibung jüdischer Schü¬
lerInnen von Wiens Mittelschulen“, das zum Teil von der Stadt
Wien gefördert wurde.

Anmerkungen

1 Gustav Richter: Die Stellung der RS zu den legalen Organisationen.
In: Der Kampf, Nr. 12, Dez. 36, 474ff.

2 Helmut Engelbrecht: Lehrervereine im Kampf um Status und Ein¬
fluß. Zur Geschichte der Standesorganisationen der Sekundar¬
schullehrer in Österreich. Wien 1978, 203.

3 „Vaterländische Erziehung — Erziehung zu Volk und Staat“. In:
Deutsch-österreichische Lehrerzeitung 39 (1934), 112.

4 Herbert Rosenkranz: Verfolgung und Selbstbehauptung. Die
Juden in Österreich 1938-1945. Wien, München 1978, 14.

5 Franz Theodor Csokor: Zeuge einer Zeit. Briefe aus dem Exil 1933¬
50. München 1964, 38ff.

6 Festschrift zur Feier des 50jährigen Bestandes der Union Öster¬
reichischer Juden. Hg. von der Union Österreichischer Juden. Wien
1937, 29£.

7 Helmut Engelbrecht, Lehrervereine im Kampf um Status und
Einfluß, wie oben, 109.

8 Vgl. Ari Rath: Autobiographie. In: Vertreibung und Neubeginn.
Israelische Bürger österreichischer Herkunft. Hg. von Erika Weinzierl
und Otto D. Kulka. Wien, Köln, Weimar 1992, 517.

9 New York Times, 23. März 1938. Zit. nach: Herbert Rosenkranz,
Verfolgung und Selbstbehauptung, wie oben, 39.

10 Verordnungsblatt des Stadtschulrates für Wien, Jg. 1938, St. VIII,
15. April 1938.

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