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Und als dann einige Tage später, am 11. April 1945, das Lager durch die amerikanischen Truppen von General Pott befreit wurde, an diesem so lang herbeigesehnten, unerwarteten, unvorstellbaren Tag, ließ meine Schwäche mich der Feier und dem Freudentaumel fast fremd gegenüberstehen. Der Gipfel des menschlichen Elends war erreicht. Da ich nur noch 33 Kilo wog, wurde ich in ein Hotel in Weimar gebracht, wo ich mich etwas erholen sollte, um den Rückflug in die Heimat zu überstehen. Weimar! Die Stadt, in der Goethe und Schiller gelebt hatten! Die Stadt, die für das Beste in der deutschen Kunst steht, für die größten Schriftsteller, Maler, Dichter und Musiker, nur wenige Kilometer entfernt von diesem Ort des Grauens Buchenwald. Und welche Ironie des Schicksals, der Baum, unter dem Goethe so gerne saß und träumte, stand trotz der amerikanischen Bombardements noch immer, als könne ihm diese Welt der Barbarei nichts anhaben. An dieser Erinnerungsstätte deutscher Klassik begegnete ich einigen jungen Frauen, die wie ich das Unheil überlebt hatten und darauf warteten, in die Heimat zurückzukehren. Vielleicht würde ich nun erfahren, was mit denen geschehen war, die ich nahezu drei Jahre zuvor auf dem Bahnsteig dieses verfluchten Bahnhofes hatte davonfahren sehen — was mit Frieda geschehen war. Die zerstörten Gesichter der jungen Frauen über ihren ausgemergelten Körpern gaben schreiendes Zeugnis ab von der Tragödie, die sie erlebt hatten. Fast alle von ihnen waren in ein beunruhigendes Schweigen verfallen, eine allgegenwärtige Traurigkeit. Von einer von ihnen erfuhr ich, daß mehrere der jungen Frauen im Hotel das Leben ihrer Schönheit verdankten, die die SS-Männer für sich haben wollten, um sich ihrer zu bedienen. In diesem Augenblick fürchtete ich mich davor, eines Tages Frieda wiederzusehen. Was war aus mir geworden? Ich war nur noch ein schwankendes Knochengerüst, das nichts mehr mit dem Jungen zu tun hatte, dem sie kaum drei Jahre zuvor begegnet war und der ihr schüchtern von Literatur und Philosophie gesprochen hatte. Wahrscheinlich würden wir uns gegenseitig nicht mehr wiedererkennen, keinerlei Anziehung mehr verspüren, die uns an die gemeinsam verbrachten Tage der Vergangenheit erinnerte, wo wir unsere Schicksale bis in den Tod hinein verbinden wollten. Ich fürchtete, daß wir gebrochene Wesen geworden waren, die sich nur wie Fremde anschauen würden, den Blick getrübt von der Schwärze des Todes, der uns so lange begleitet hatte. Und doch verblieb in mir trotz allem die Hoffnung, ein wenig von dem Lächeln, dem Auf-mich-zugehen wiederzufinden, das mich so verwirrt hatte. Bei meiner Rückkehr nach Brüssel sollte ich rasch Klarheit erhalten. Fassungslos vernahm ich die schreckliche Meldung über das grauenvolle Schicksal, das niemand sich vorzustellen gewagt hatte. Frieda, ihre Eltern und ihre Leidensgenossen hatten gleich nach ihrer Ankunft ihr Schicksal in den Gaskammern von Auschwitz besiegelt gefunden. Wie auch meine Eltern und Millionen von anderen Opfern, hatten sie nur eine Rauchfahne zurückgelassen, die nie verwehen wird. Meine Kehle war wie zugeschnürt, als ich in Gedanken noch einmal den Film über unsere Begegnung bei der Gestapo ablaufen sah, über die verzweifelte Bindung, die wir in jener düsteren Kaserne in Dossin, dem Vorraum des Todes, eingingen, ich sah, wie wir auf dem Bahnsteig eines polnischen Bahnhofes auseinandergerissen wurden und wie ich litt, und ich sah dieses grauenhafte Ende in einer Gaskammer, das ihre Existenz auslöschte. Adieu, Frieda, die du mich die Liebe hast entdecken lassen. Eine Liebe, die, kaum entstanden, schon auf so schmachvolle Weise enden mußte. Unbewußt habe ich dich vielleicht überall und vergeblich gesucht, bis heute. Sicher erklärt das die Menge junger Frauen, die ich gekannt und doch gleich wieder vergessen habe... Du sollst wissen, daß unsere kurze Begegnung mich so geprägt hat, daß ich an diesem Tag der Erinnerung an den Holocaust meine Scham, die dir gefallen hätte, überwinde und nicht mehr schweige, sondern Zeugnis gebe von meiner tiefsten Erniedrigung, die mir mehr als fünfzig Jahre auf der Seele lastete. Frieda Ruth Friedmann, geboren in Köln am 30. Juni 1924. Eingetragen in die Deportationsliste der Kaserne Dossin in Mechelen unter der Nummer 692 des 9. Transports von Mechelen am 4. September 1942. Nach Auskunft des belgischen Ministeriums für Öffentliche Gesundheit vermutlich zwischen dem 12. und dem 22. September 1942 in Auschwitz ermordet. Der Vater und die Mutter von Frieda Friedmann waren unter der Nummer 693 beziehungsweise 691 ebenfalls in der Deportationsliste eingetragen. Sie sind sind vermutlich ebenfalls in Auschwitz ermordet worden. Felix Gutmacher, geboren am 31. Januar 1926 in Forest. Eingetragen in die Deportationsliste der Kaserne Dossin in Mechelen unter der Nummer 690 des 9. Transports am 4. September 1942. Gutmacher wurde am 11. April 1945 in Buchenwald befreit. Erst 1949 einigermaßen wiederhergestellt, studierte er Jus in Brüssel, wo er dann mehr als 45 Jahre als Rechtsanwalt tätig war. 1961 war er Zeuge im Eichmann-Prozeß in Jerusalem. Gutmacher lebt in Brüssel „Jamais je ne vous oublierai“. 29