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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT

TRUST

— wohl anläßlich des 75. Geburtstages —, und auch nicht an sei¬
ner letzten Wirkungsstätte Berlin,’ wie man vielleicht erwarten
könnte, sondern in den neu entstandenen kulturellen Zentren der
Besatzungszonen in der Provinz: in Baden-Baden (hier ist es
Hans Rosbaud, Chefdirigent des neu gegründeten SWF-Sinfo¬
nieorchesters, der die Initiative ergreift) und in Darmstadt (wo
Wolfgang Steinecke, der Leiter der Internationalen Ferienkurse
für Neue Musik, versucht Schönberg zu gewinnen). Die beiden
deutschen Angebote stehen offensichtlich in direktem Zusam¬
menhang mit jenen vermeintlich rein ästhetischen Debatten, die
sich in der Polarisierung „Neoklassizismus vs. Dodekaphonie“
oder auch — wie oft in den publizistischen Invektiven der Zeit
— ‚Schönberg gegen Hindemith’ bündeln lassen, Debatten, die
doch immer auch solche über die Rolle von Emigranten für die
Entwicklung des westdeutschen Musiklebens in den Jahren um
1950 waren. Die in Schönbergs Nachlaß überlieferten Kor¬
respondenzen vor allem mit Alfred Schlee, Josef Rufer und Hans
Rosbaud erlauben einen ersten Einblick in die durchaus kom¬
plexen, vielschichtigen Bedingungen solcher Rückrufinitiativen
in der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte.’ Schon diese ersten,
auf eine relativ kleine Quellenauswahl gestützten Schritte in das
Thema deuten an, wie aufschlußreich auch gerade nicht geglückte
Rückkehrversuche sein können, und mögen weitere Untersu¬
chungen zu diesem Themenkomplex anregen.

Exkurs I: Rückkehr der Schriften

Daß eine Darstellung der Versuche, Schönberg aus dem Exil
zurückzuholen, gleich mit einem Exkurs beginnt, mag ver¬
wundern; es ist jedoch erforderlich, als Hintergrund für die
Hoffung auf Rückkehr der Person selbst auch die Präsenz der
künstlerischen Arbeit im Musikleben überhaupt zu sehen. Dabei
spielen nicht nur die Aufführungen der Werke eine Rolle (die
hier nicht zum Thema gemacht werden)‘, sondern ebenso Kennt¬
nisse über die dahinterstehenden Ideen. Das war Schönberg of¬
fenbar bewußt, als er versuchte, noch bevor Alfred Schlees er¬
ster Brief (datiert auf den 9.1.1946) eingetroffen war, die Kon¬
takte zu seinem Wiener Verlag wieder aufzunehmen — beide
Briefe kreuzten sich augenscheinlich. Schönberg zielt nicht nur
darauf, seine Musik,‘ sondern sehr früh auch sein theoretisches
Denken wieder in die alte Heimat zurückzubringen: Auch wenn
es ihm in der weiteren Korrespondenz immer wieder zentral dar¬
um gehen wird, die Aufführung und das Studium seiner Musik
zu ermöglichen, bietet er dem Verlag in seinem ersten Brief nicht
etwa Partituren an, die seit einiger Zeit schon bei Schirmer ver¬
legt wurden, sondern die in der Sprache des Exillandes publi¬
zierten Schriften. Schönberg fragt bei Alfred Schlee nach, ob
sein ehemaliger Verlag Interesse an der Publikation der engli¬
schen theoretischen Schriften habe — er würde selbst für die Über¬
setzungen sorgen:

Es handelt sich in erster Linie um ein bei G. Schirmer, Inc.
erschienenes kleines Buch von 64 Seiten Quartformat: 2. um
eine demnächst erscheinende Sammlung meiner Essays und
Vorträge; 3. um ein umfangreiches Lehrbuch: Musikalische
Kompositionslehre, und 4. ein Lehrbuch, das den Uebergang
von Harmonielehre und Formenlehre bildet: Konstruktive Funk¬
tionen der Harmonie. Möglicherweise kommt dann noch in ei¬
niger Zeit dazu Kontrapunkt, Band 1: Vorübungen. Band 2:
Kontrapunktische Kompositionsformen. Band 3: Kontrapunkt
in homophonen Kompositionen."

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Im Dezember 1946 ergänzt er seinen Publikationsplan um den
Vorschlag zu einem Band mit dem Titel „Dichtungen, Texte,
Aphorismen und Sprüche“, der neben bereits früher in der UE
veröffentlichen Texten auch das Drama Der biblische Weg und
das Libretto zu Moses und Aron enthalten soll:

Der Band mag etwas 250-300 Seiten stark sein, im ge¬
bräuchlichen Buchformat. Ich glaube, dass man unschwer auch
hier eine erkleckliche Anzahl der Exemplare verkaufen wird,
sicher aber in vielen europäischen Staaten, da die beiden
Hauptstücke das Problem des Judentums behandeln.

Obwohl Schlee ihm sofort zusagt, seine Schriften zu drucken’
und diese in der Korrespondenz immer wieder Thema sind, las¬
sen sie sich offenbar so nicht umsetzen. Spätestens mit dem Er¬
scheinen des Doktor Faustus (1947)" und noch dringlicher wohl
mit dem Auftreten Adornos als Sachwalter Schönbergs in
Deutschland aber'' fühlt sich Schönberg massiv mißinterpretiert
und es wird ihm noch wichtiger, selbst mit seiner Theorie prä¬
sent zu sein. Er nimmt in der Sache deshalb nach einer Weile
auch mit anderen Verlagen Kontakt auf, so z.B. Anfang 1948
unter Vermittlung von Joseph Rufer mit dem Schweizer Atlantis¬
Verlag, Rufer schlägt auch den Knaur-Verlag vor, mit dem er
in engem Kontakt steht.'” Im Sommer 1949 überlegt Schönberg
als Beitrag zu der von Rufer und Hans-Heinz Stuckenschmidt
herausgegebenen Zeitschrift Stimmen, „vielleicht das Buch
Structural Functions ofthe Harmony [sic], wenn ich imstande
bin es zu tibersetzen — rechtzeitig.“' Im Oktober 1950 berich¬
tet Schönberg auch davon, daß er Verhandlungen mit Peters auf¬
genommen habe wegen einer deutschen Ausgabe von Style and
Idea:

Sonst käme Piper sehr in Betracht. - Eventuell für das
Deutsche Buch. Dieses enthält: Moses und Aron, Der Biblische
Weg, das Buch Dichtungen, das U-E freigeben muss. Ferner:
Aphorismen, Sprüche und Kanons (letztere in Noten).'

Im Rückblick erweisen sich alle diese Versuche Schönbergs,
seine Schriften in Deutschland oder Österreich zu publizieren,
als gescheitert, sie wurden erst posthum in einigen Einzelpro¬
jekten wiederaufgenommen - eine 1976 im Fischerverlag be¬
gonnene Schriftenausgabe ist über den ersten Band nicht hin¬
ausgekommen — und ihre Edition scheint sich nun mit dem
Vorhaben einer „Kritischen Gesamtausgabe“ endgültig von ei¬
nem „Remigrationsprojekt‘“, der Rückkehr der Ideen, zu einem
historisch-philologischen Forschungsprojekt gewandelt zu
haben.

I. Wien

Der damalige KPÖ-Kulturstadtrat in Wien, Viktor Matejka, be¬
richtet in seinen Lebenserinnerungen ausführlich über seine ge¬
scheiterten Versuche, Schönberg wieder nach Wien zu holen."
Allerdings war er mit seinen Bemühungen keineswegs allein.
Im Nachlaß Schönbergs sind vor allem die Korrespondenzen
mit Alfred Schlee aufschlußreich für die Wiener Pläne. Bereits
Anfang Januar 1946 schreibt dieser an Schönberg und leitet sei¬
ne Anfrage zunächst mit einem Bericht über die Neugründung
der IGNM, zu deren Ehrenpräsident Schönberg auch wenig spä¬
ter gewählt werden wird,'* in den Räumen der Universal Edition
ein:

Nun aber möchte ich die wichtigste Bitte an Sie richten. Nach
dem Gesagten muss ich wohl nicht weiter ausführen, welches
Glück es für uns bedeuten würde, wenn Sie mit Ihrem Schaffen