Ausblick aus dem Atelier in der Taubstummengasse wenige Tage
vor der Emigration 1938 (Privatsammlung Bernd Kreuter)
schlechten Bedingungen, unter denen diese hergestellt werden.
Mitten in der Arbeit am Entwurf zu einem Kinderbuch flüch¬
tet sie bei Bombenalarm in einen Londoner „Bombenschutz¬
schuppen“, der lediglich aus mit Erde bedecktem Wellblech be¬
steht. Während dieser Zeit und danach entstehen viele Kin¬
derbücher, aus denen sechzig Jahre nach dem ersten Erschei¬
nen noch immer eine zeitgemäße Aktualität herauszulesen ist.
Die Cocolo-Bücher‘, eine Serie von drei Büchern über die Exil¬
geschichte eines kleinen Buben und dessen Esel thematisieren
das Gefühl von Dislokation, sowie daraus entstehende Fragen
nach dem Begriff des Zuhauses, was es bedeutet nach Hause
zurückzukehren, warum man überhaupt weggeht und welche
Empfindungen damit verbunden werden. Über die Inhalte ih¬
rer Kinderbücher findet sich bei Bettina selbst:
I believe that tragic episodes do not upset children provi¬
ded the story has a happy end and does not undermine the child'‘s
belief that grief passes, tears are dried and love is victorious.
Neben ihrer Karriere als Kinderbuchautorin ist Bettina Ehr¬
lich auch weiterhin als Malerin tätig, jedoch scheint die Ma¬
lerei nicht mehr den Stellenwert einzunehmen, den sie vor ih¬
rer Emigration inne hatte. Sie betreut und unterstützt ihren Mann
bei seiner Arbeit. Sie hilft ihm bei dessen Bildhauerarbeit,
schreibt seine Erinnerungen auf, erledigt Korrespondenzen und
übernimmt alle ausstellungsorganisatorischen Tätigkeiten.
Als Georg 1966 in Luzern stirbt, sieht sie es als ihre Ver¬
pflichtung, sein Lebenswerk für die Nachwelt zu erhalten. Sie
organisiert Gedenkausstellungen für Georg und vermacht den
schriftlichen Nachlass der Wiener Stadt- Landesbibliothek. Ne¬
benbei schreibt und illustriert sie weiter Kinderbücher. Als sie
1985 in London in der Folge einer Krebserkrankung stirbt, ist
sie mit ihren Büchern im englischsprachigen Raum ein Begriff,
in Österreich eine weitestgehend Unbekannte. So die biogra¬
phische Datenlage.
How do people imagine what seems distant, both in time and
location?
Wie sollte ich nun mit den Angaben und den immer umfang¬
reicheren Fragen umgehen?
Ich konnte offenbar die Geschichte nicht separiert von dem
Ausschnitt aus dem Video „location_“ (2,55 ‘),
Taubstummengasse 2005
lesen, wie sie auf verschiedene Art und Weise erinnert wurde.
Es musste demnach also zu einem Zusammenfließen der Ge¬
schichte wie sie passierte und der Erinnerung über diese Ge¬
schichte kommen. Was zu der Einsicht führte, dass das, was als
Geschichte wahrgenommen wird, nicht die wirklich passierte
Geschichte ist, sondern die, einen Lebenslauf betreffende Ge¬
schichte und deren Tradierung. Würde demnach eine künstle¬
rische Annäherung an Bettina Ehrlichs Lebenslauf Aspekte von
Rekonstruktion, Reproduktion, Projektion und Simulation be¬
inhalten? Würde sie geprägt sein von Erinnerungen und mei¬
nem subjektiven Umgang mit diesen Erinnerungen? Inwiefern
würde der Rezipient meiner Arbeit wiederum seine eigene Ge¬
schichte konstruieren? Während sich mir diese Fragen erhoben,
filmte ich Orte, an denen Bettina gelebt hatte, an denen sie ge¬
wesen sein musste. Traf mich mit Menschen, die sie gekannt
hatten, und bat sie von ihren Erinnerungen zu erzählen. Las ih¬
re Bücher wieder. Sah mir die Fotos ihrer verloren gegange¬
nen Bilder an, versuchte Situationen von Fremdheit und Hei¬
matlosigkeit gefühlsmäßig nachzuvollziehen — mit dem Ergebnis
mir eingestehen zu müssen, im eigentlichen Sinn: sprachlos zu
sein.
Aus Bettina Ehrlichs
„Cocolo Comes to America“