genau Dominique Lassaigne an Rheinhardt so sehr faszinier¬
te, daß sie, wieder zurück in Paris, sofort mit eigenen Recher¬
chen begonnen hat, weiß ich nicht. Vielleicht war es die seine
Vita wie sein Werk kennzeichnende Widersprüchlichkeit, die
sie zum Nachforschen reizte. Er gehörte nicht zu den großen
Schriftstellern des Exils. Schrieb zwar einige und zu seinen Leb¬
zeiten auch erfolgreiche Romane, aber keiner davon hat die Zeit
überdauert. Nach allem, was wir wissen, war er bis zu seinen
Exiljahren im südfranzösischen La Lavandou eher ein Bonvi¬
vant mit konservativ-monarchistischen Sympathien, der aber
in sich verdunkelnder Zeit begonnen hat, ein sehr verlässlicher
Mensch im Widerstand der Schriftsteller zu werden, ohne sich
von deren jeweiligen politischen Haltung beeinflussen zu las¬
sen. Bewegend, was Niko Rost in seinem KZ-Tagebuch „Goethe
in Dachau“ über die noble Haltung seines Mithäftlings Rhein¬
hardt in den letzten Monaten vor seinem Tod im Lager ge¬
schrieben hat.? In seiner Münchner Zeit muß er ein stilbewu߬
ter Homme des lettres gewesen sein, gerne gesehen in Salons,
in denen auch Thomas Mann, Lion Feuchtwanger und Paul Klee
verkehrten. Den in der Öffentlichkeit gerne blendenden Ver¬
lagslektor schilderte aber seine damalige Frau Gerty Wollmut
in ihren Tagebuchaufzeichnungen mit einem verärgerten Un¬
terton als einen Mann, dem seine Frau zu Hause als Sekretärin
diente, während er in der Schwabinger Intellektuellen-Bohe¬
me eine „unüberschaubar große Zahl von außerehelichen Amou¬
ren“ pflegte.
Dominique Lassaigne machte sich in den letzten Jahren übe¬
rall aufeine Spurensuche nach dem Leben Rheinhardts: in Wien,
in München, in Paris, in La Lavandou, in Dachau. Mit großer
Entdeckerfreude berichtete sie mir regelmäßig über den jeweils
neuesten Stand ihrer Recherchen. In ihrem letzten Brief schrieb
sie über ihre Nachforschungen und die Idee einer Veröffentli¬
chung, der sie den Titel Emil Alphons Rheinhardt: „Meine Ge¬
fängnisse“ — Literarische Zeugnisse aus Vichy-Frankreich und
Dachau geben wollte.
... Zwischenzeitlich war ich Anfang Oktober in England und ha¬
be dort nochmals neue, wirklich außerordentliche Dokumen¬
te gefunden. Der Eigentümer des Hauses, in dem die Rheinhardt¬
Dokumente lagen, hat mir endlich gestattet, alle Kisten mit den
Rheinhardt-Unterlagen durchzusehen. Dabei habe ich nicht nur
die Handschriften unveröffentlichter Gedichte und Romane ge¬
funden, die Rheinhardt 1940 und 1942 jeweils nach seiner Ent¬
lassung aus französischen Internierungslagern geschrieben hat.
Sondern auch Briefe von Stefan Zweig, Heinrich Mann, Hein¬
rich Schnitzler, Felix Braun, Alfred Wolfenstein, Jakob Was¬
sermann... sowie eine lange Widmung von Thomas Mann an
Rheinhardt in einem Buch, auch von Franz Werfel, Rene Schicke¬
le, und noch anderes. Die geplante Publikation bekommt durch
diese Wendung einen etwas anderen Charakter. Ich würde gern
eine Auswahl dieser Dokumente mitveröffentlichen und denke
darüber nach, wie dies in der Struktur des Buches am besten
geschehen kann. Die Gedichte, die Rheinhardt über die Inter¬
nierungslager schrieb, sowie ein wundervolles Gedicht
„Deutschland 1942” möchte ich als eine Art Vorrede vor das
eigentliche Tagebuch stellen. Als Dokumentenanhang könnte
man einige der unveröffentlichten Briefe von Rheinhardts
berühmten literarischen Exilgenossen aufnehmen. Die auch jetzt
erst gefundenen wunderbaren Fotografien gehören natürlich
ebenfalls in das Buch: bisher unbekannte Fotografien von Rhein¬
hardt, vor seiner Schreibmaschine sitzend, oder mit seiner Se¬
kretärin Erica de Behr, und noch weitere sehr interessante Fo¬
tografien von Thomas und Katia Mann in la Villa des ChLnes
(das Haus von Rheinhardt in Le Lavandou), die den Lesern die
Personen näher bringen können.
Eine ganz besondere Neugierde, vielleicht auch Nähe, verband
Dominique Lassaigne mit Erica de Behr, der Sekretärin Rhein¬
hardts in seinem französischen Exil. Von ihr wissen wir wenig
und deshalb konnte man auf ihre Spurensuche nach der Iden¬
tität dieser Frau auch sehr gespannt sein. Selten habe ich je¬
manden erlebt, der auch so persönlich von dem Thema seiner
Recherchen gefangen war wie Dominique Lassaigne. Und dann
die von einer Freundin überbrachte Nachricht, dass sie am letz¬
ten Tag des Jahres 2005 auf einer spiegelglatten Landstrasse
in Schottland von einem entgegenkommenden Autofahrer fron¬
tal erfasst worden ist...
Von den vielen Gesprächen und Briefwechseln mit Dominique
Lassaigne habe ich gelernt, dass man seine wissenschaftliche,
seine journalistische, seine menschliche Neugierde mehr auf
die vergessenen Personen am Rande der allgemeinen Auf¬
merksamkeit lenken sollte. Auch Emil Alphons Rheinhardt war
ja ein eher Vergessener im Schatten der intellektuellen Portal¬
figuren des Exils. Auch fällt es schwer, ihn den verschiedenen
politischen Familien des politischen Widerstands gegen Hitler
zuzuordnen. Und den Frauen an seiner Seite, die ihm seine Tex¬
te schrieben, die ihm halfen, sich in der fremden (französischen)
Sprache auszudrücken, hat niemand bis jetzt eine Aufmerk¬
samkeit geschenkt.
‚Zwischen den Zeilen‘ der Texte von Dominique Lassaig¬
ne und in den Pausen während der Gespräche mit ihr schienen
manchmal einige ihrer oft als demütigend erlebten Erfahrun¬
gen in der akademischen Konkurrenzwelt auf. Heimisch und
„bei sich‘ aber erlebte man Dominique Lassaigne immer dann,
wenn sie anderen bei Übersetzungen oder journalistischen Re¬
portagen helfen konnte. Mit großer Freude teilt sie mir zuletzt
mit, wie sie einen Mitarbeiter der FAZ (und langjährigen Freund)
dabei unterstützen konnte, sich ein eigenes Bild über die Er¬
scheinungen und die Ursachen der Gewalt in den Pariser Vor¬
städten zu machen. Dominique Lassaigne half gern, sie frag¬
te viel und wägte Antworten lange ab. Sie lebte auf, wenn sie
mit anderen ihre Gedanken tauschen konnte. Wer sie kannte,
bekam schnell eine Ahnung davon, was Trublet unter einem ‚ge¬
selligen Menschen‘ verstand. Vielleicht war es auch das, was
Dominique Lassaigne an Rheinhardt so faszinierte. Gerne hät¬
te ich ihr diese Frage noch gestellt...
1 in: Claudia Schmölders (Hg.): Die Kunst des Gesprächs. Texte zur
Geschichte der europäischen Konversationstheorie. München 1979,
194.
2 Gefängnistagebuch von E.A. Rheinhardt, Nizza, den 22. Januar
1944. In: Michael Hamburger: Heimgekommen. Ausgewählte
Gedichte. München 1984, 14.
3 Nico Rost: Goethe in Dachau. Hamburg 1981.