OCR
Es gab eine Zeit, nach der sich meine Eltern und meine Familie gesehnt haben, die Zeit der Monarchie, als Österreich und Ungarn noch ein Land waren. Diese Sehnsucht kann man heute nur verstehen, wenn man weiß, was nach der Monarchie in Österreich und Ungarn geschah. Mein Vater, geboren 1882 in Ungarn, glaubte Glück zu haben, als er 1908 einen Posten beim gemeinsamen Heer erhielt. Seine Muttersprache war Deutsch, er beherrschte aber auch Ungarisch, Slowakisch und Kroatisch. Meine Eltern zogen nach Wiener Neustadt, wo mein Bruder 1913 geboren wurde. Während des Ersten Weltkriegs diente mein Vater im ungarischen Heer, doch 1919, nachdem die ungarische Räterepublik geschlagen war, flüchtete die Familie zurück nach Österreich. Die Eltern erhielten die österreichische Staatsbürgerschaft und konnten in Baden bei Wien ein Haus erwerben. Mein Vater arbeitete als Vertreter eines deutschen wissenschaftlichen Verlags auf dem Balkan. 1928 wurde ich in Baden geboren. Wir lebten ohne finanzielle Sorgen. Doch das Leben als geachtete, gutsituierte Österreicher ging am 11. März 1938 zu Ende, als man uns nachdrücklich klar machte, dass wir nicht zur Volksgemeinschaft gehörten. Meine Eltern versuchten so schnell wie möglich die Ostmark verlassen. Da mein 56jähriger Vater befürchtete, keine neue Sprache mehr erlernen zu können, bemühte er sich, die ungarische Staatsbürgerschaft wieder zu erlangen. Doch der „Anschluss“ Österreichs radikalisierte auch die ungarischen Antisemiten, und so beschlossen die Behörden, Juden nicht mehr einzubürgern. Damals wie heute gab es aber korrupte Beamte, und so konnten wir auf abenteuerlichem Wege nach Ungarn gelangen, wo die Verwandten uns mit offenen Armen empfingen. Damit ich Ungarisch lerne, schickten mich meine Eltern in das Jüdische Internat Debreczen. Ohne Unterstützung der Verwandten hätten meine Eltern mich dort nicht unterbringen können. Allerdings verbrachte ich nur das Schuljahr 1938-39 in Debreczen, wo ich Ungarisch lernte und das Gefühl hatte, in Ungarn eine Heimat gefunden zu haben. Dann konnten meine Eltern nicht mehr für mich bezahlen und ich kehrte zu ihnen nach Budapest zurück. Zu keiner Zeit ließen mich meine Eltern ihren tiefen Fall spüren. Plötzlich waren sie nicht mehr angesehene Bürger, sondern von Verwandten unterstützte Flüchtlinge, die es als ein Glück empfanden, im Land ihrer Geburt zu leben. Ungarn war ein Land voll der Widersprüche. Ein Königreich ohne König mit einem Admiral an der Spitze, jedoch ohne Flotte. Die offizielle Politik war zwar antisemitisch, jedoch wurden Juden bis zur deutschen Besetzung 1944 nicht gezwungen, den gelben Stern zu tragen. Es gab Juden diskriminierende Gesetze, die aber einige Schlupflöcher offen ließen. Unsere Familie, war zwar assimiliert, jedoch hielt sie am jüdischen Glauben fest. Alle fühlten sich als Ungarn und waren fest davon überzeugt, dass ihnen in Ungarn keine Gefahr drohe. In Budapest konnte ich nur im jüdischen Gymnasium lernen. Die „Judengesetze“ saleiı vor, dass au uichljüdischen Schulen, der Prozentsatz der Juden nicht den Prozentsatz der Juden im Land übersteigen durfte. Zunächst tat es mir sehr gut, wieder bei den Eltern zu sein. Doch als ich das erste Mal mit der ob42 ligaten Schulkappe der jüdischen Schule auf die Straße ging, wurde ich als „schmutziger Jude“ beschimpft. Ich sah mich zurückversetzt in eine Lage, in der ich bereits einmal war, und beschloss, ohne mich mit Eltern oder Verwandten zu beraten, dass ich kein Ungar sein könne. Plötzlich schienen mir die Bekenntnisse meiner Eltern und Verwandten zu ihrem Heimatland verlogen. Ohne recht zu wissen, was Judentum wirklich bedeutet, wollte ich stolz sein auf mein Judentum. Allerdings hatte ich schon in Baden bei Wien nach dem „Anschluss“ gefolgert, es gebe keinen Gott. Diese Erkenntnis kam mir in den Sinn und ich fing im jüdischen Gymnasium lautstark zu verkünden an, es gebe keinen Gott und wir seien auch keine Ungarn. Bald lernte ich Gleichgesinnte kennen und wurde Mitglied des Haschomer Hazair. Nie hatte ich gewagt, diese ketzerischen Gedanken zuhause oder bei Verwandten zu verkünden. In Budapest traf ich mich so oft ich konnte mit meinem Lieblingscousin Jancsi Wollner, dem Sohn meiner Tante Gizella. Jancsi hatte mit Auszeichnung seine Matura gemacht. Sein Vater war Reisender und Sozialdemokrat. Die Zeiten waren hart, insbesondere für einen jüdischen Reisenden. Meine Eltern sprachen missbilligend darüber, dass er „anstatt zu arbeiten im sozialdemokratischen Klub Karten spielt“, doch das war nicht gerecht. Ich mochte diesen Onkel, der am Tag nach der Befreiung durch die Rote Armee starb. Mein Vater starb am gleichen Tag, er hatte sich in einem Keller versteckt. Beide wurden in einem Massengrab verscharrt. Jancsi war glücklich in der Seidenfabrik Goldberger untergekommen, wo er Webmeister und Mitglied der illegalen kommunistischen Partei wurde. Meistens trafen wir uns in der kleinen Wohnung seiner Eltern, spazierten zum nahen Donauufer, wo wir uns auf eine Bank setzten und er mir das Schachspiel beibrachte. Jancsi war verheiratet und hatte zwei kleine Kinder. Jancsi und seine Schwester Lilly, die ebenfalls bei Goldberger arbeitete und auch zwei Kinder hatte, wohnten in einer Arbeitersiedlung der Fabrik. Er erzählte mir vom Sozialismus und von der Solidarität der Arbeiterklasse und wollte mich überzeugen, dass wir doch Ungarn wären und es unsere Aufgabe wäre, den Klassenkampf zu führen. Er wurde im Sommer 1941 zu einem Arbeitsbataillon eingezogen und in der Ukraine ermordet. Seine Frau und seine Schwester wurden mit ihren Kindern 1944 nach Auschwitz-Birkenau deportiert und dort ermordet. Die „arischen“ Nachbarn sollen sich um ihr armseliges Eigentum gestritten haben. Solidarität gab es keine, daran glaubten leider hauptsächlich diejenigen, die darauf angewiesen gewesen wären. Erst viel später sollte ich erfahren, dass leider auch nicht wenige sozialdemokratische Arbeiter bei den Wahlen 1939 die Pfeilkreuzler gewählt hatten. Natürlich gab es nach der deutschen Besatzung auch einzelne Fälle der Hilfeleistung. Doch diese waren wie ein Tropfen auf einem heißen Stein. Aber ich greife vor. In jenen glücklichen Tagen, als noch die ganze Familie lebte, rückte diese zusammen. Mein Vater hatle zwei Cousins in Budapest, beide verheiratet aber kinderlos. Beide behandelten mich, als ob ich ihr eigener Sohn wäre. Der ältere war Onkel Jenö Reich, der Direktor einer Druckerei war. Wegen der Judengesetze wurde er offiziell als Korrektor geführt.