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teten nur mehr auf die Bestätigung der Passage. Nach dem Einlangen der Schiffskarten sollten wir das Visum bekommen. Denn es war nur sechs Monate gültig und wurde nicht verlängert, es sei denn man unterzog sich neuerlich allen Prozeduren für eine Immigration in die USA. Der US-Vizekonsul versprach uns, jederzeit unsere Interessen bei den ungarischen Behörden zu vertreten. Als wir Kenntnis von unserem vorgesehenen Abtransport erhielten, gelang es uns dank der Einsicht eines Polizeibeamten, ein Telefonat mit dem US-Konsulat zu führen und es um Hilfe zu ersuchen. Der Vizekonsul setzte sich sogleich mit der ungarischen Fremdenpolizei in Verbindung und protestierte gegen unseren Abtransport. Wir sollten ja in absehbarer Zeit in die USA ausreisen. Diesem Protest wurde stattgegeben. Wir wurden vom Transport ausgenommen. Fiala und wir waren 1941 die einzigen österreichischen Flüchtlinge, die nicht deportiert wurden. Die nach Galizien Abgeschobenen fanden ein schreckliches Ende. Sie wurden Opfer eines SS-Einsatzkommandos und Ende August in Kamenez Podolsk erschossen. Im Oktober 1941 wurde Ernst Fiala in das Lager Ricse verlegt. Wir verblieben noch bis März 1942 in der Szabolcs-utca und wurden dann ebenfalls nach Ricse überstellt. Hier trafen wir wieder mit Fiala zusammen. Wieder war er als Sanitäter eingesetzt. Zu seinen Aufgaben gehörte auch die wöchentliche Kontrolle nach Läusen. Ich war gerade zwei Tage im Lager Ricse und wusste nicht, wie man sich vor Läusen schützt — und dass man sie aus der Kleidung entfernen muss. Bei der Läuse-Kontolle, von Fiala durchgeführt, fand man bei mir eine Laus. Dafür erhielt ich zur Strafe 24 Stunden Dunkelarrest. Das war eine fürchterliche Strafe für einen 16jährigen. Zwei Monate später erkrankte ich an einer schweren Rippenfellentzündung. Bei einem abendlichen Zählappell — wir standen zwei Stunden in strömendem Regen — erkältete ich mich schwer. Ernst Fiala behandelte und betreute mich ärztlich. Er nahm an mir eine Punktion vor, entnahm mir 850 ccm Exudat und behandelte mich mit Salycyl-Tabletten. Zweieinhalb Monate lag ich im Krankenrevier, bis ich wieder auf die Beine kam. In den ersten Monaten des Jahres 1942 hatte sich Ungarn auch stärker an dem Krieg gegen die Sowjetunion beteiligt. Die zweite ungarische Armee, 250.000 Mann stark, hatte den Frontabschnitt am Don gegenüber von Woronesch übernommen. Als unbewaffnete Hilfskräfte wurden ihr 50.000 jüdische Arbeitsdienstsoldaten beigestellt. Sie hatten Minenfelder zu räumen, Straßen und Stellungen zu bauen, Munitionstransporte durchzuführen. Wiewohl die Front am Don ein verhältnismäßig ruhiger Frontabschnitt war, machten sich bald die Ausfälle an Soldaten und Hilfskräften bemerkbar. Es mussten neue Jahrgänge ausgehoben werden. Im September 1942 wurden von ungarischer Seite auch im Lager Ricse unerwartet einige militärdienstfähige Lagerinsaßen — ohne Rücksicht auf deren fremde Staatsangehörigkeit oder Staatenlosigkeit — zum ungarisch-jiidischen Arbeitsdienst eingezogen. Ernst Fiala war einer von ihnen. Sie wurden im Lager Csörgö gesammelt, militärisch gedrillt, zu einer Kompanie formiert und dann sodann als militärische Hilfskräfte der ungarischen Armee am Don zugeteilt. Am 12. Jänner 1943 durchbrachen Einheiten der Roten Armee die Front der ungarischen zweiten Armee und drangen tief in die Ukraine vor. Die Ungarn verloren fast sechzig Prozent ihres Mannschaftsstandes. Die Armee wurde damit vollständig zerschlagen. Auch die ungarisch-jüdischen Arbeitsdienstsolda46 ten hatten schwere Verluste erlitten. Sie verloren mehr als die Hälfte ihres Mannschaftsstandes. Ernst Fiala übte innerhalb seiner Kompanie die Funktion eines Sanitäters aus. Wo sich seine Kompanie oder Reste von ihr zur Zeit des russischen Durchbruchs befanden, ist nicht bekannt. Sie zog sich in den folgenden Wochen in Richtung Nordwesten zurück. Im August 1943 befindet sich Fiala in der Gegend um Orscha, südöstlich von Witebsk. Um diese Zeit scheinen auch Partisanen von seiner Anwesenheit erfahren zu haben. Sie waren auf der Suche nach einem Arzt oder Feldscher. Fiala wurde von den Partisanen gekidnappt, zumal sie dringend ärztlichen.Beistand für einen Kameraden benötigten. Fiala wurde genötigt, eine Amputation unter primitivsten Bedingungen vorzunehmen. Und sie gelang. Fiala verblieb die nächsten Monate im Verband der Partisanen. Ob Fiala, als sich die Partisanen mit der Roten Armee vereinigten, bei der kämpfenden Truppe blieb oder in ein Kriegsgefangenenlager überstellt wurde, ist nicht bekannt. Im Juni 1945 kehrten wir wieder nach Wien zurück. Wir gehörten zur ersten Gruppe der Rückkehrer aus dem ungarischen Exil. Für viele vorerst in Budapest verbliebene Österreicher galten meine Eltern als eine Art Anlaufstelle für Rückkehrer. Sie erkundigten sich bei uns, wie sie am besten wieder Fuß fassen konnten, um ein neues Leben zu beginnen. So auch Ernst Fiala. Es war im Herbst 1945. Es läutete an der Tür. Ich öffnete und vor mir stand ein russischer Soldat in Felduniform. Ich fragte ihn: „Wen suchen Sie?“ Daraufhin meinte er: „Ja, kennst du mich nicht? Ich bin’s. Ernst Fiala.“ Erst da erkannte ich ihn. Ich bat ihn einzutreten, führte ihn ins Wohnzimmer. Mein Vater las gerade Zeitung, aber er erkannte Ernst sogleich. Ernst begann zu erzählen, wie es ihm ergangen war, aber über seine Zeit in Russland hielt er sich zurück. Ein Phänomen, das auch andere aus Russland Heimgekehrte hatten. Man sprach über Russland nicht. Solange meine Eltern lebten, blieben sie in Verbindung mit Ernst Fiala. Er nahm wieder sein Medizinstudium auf und promovierte 1949 zum Doktor der Medizin. Einige Zeit später eröffnete er eine Ordination in Wien IX., Rossauerlände 39. Im Verlaufe der Zeit erhielt er den Titel eines Medizinalrates und auch den eines Obermedizinalrates. In den 1980er Jahren begann er wieder zu studieren. 1889 promovierte er zum Dr.phil. mit der Dissertation: „Studien zur Phänomenologie des Todes“. Wenn ich an seinem Wohnhaus vorbeiging, sah ich immer seine Namenstafel, die sich nur durch die zusätzlichen Titel veränderte. Es hieß da: Obermedizinalrat DDr. Ernst Fiala ordiniert Mo.-Fr. von 16 — 18 Uhr. Anmeldung erbeten. Tel. 34 41 08. Als ich ihn vor einigen Monaten anrufen wollte, stellte ich fest, daß der Telefonanschluss nicht mehr existierte. Im Telefonbuch schien auch kein DDr. Ernst Fiala mehr auf, aber auch niemand sonst mit dem Namen Fiala an der obigen Adresse. Als ich kürzlich an dem Haus vorbeikam, hing die Namenstafel noch immer an der Hauswand. An der Gegensprechanlage fand ich eine Ordination Dr. Fiala und zwei weitere Knöpfe mit dem Namen Fiala. Ich drückte alle drei Knöpfe, doch niemand rührte sich. Zufällig kam ein Hausbewohner daher, den ich befragte, ob er DDr. Fiala kenne. „Der alte Fiala lebt nicht mehr und seine Frau scheint weggezogen zu sein“, meinte er. Eine Tochter lebe noch hier, doch er kenne sie kaum. Ich rief die Ärztekammer an. Hier erhielt ich die Auskunft: DDr. Ernst Fiala sei 1992 verstorben. Seine Ordination habe bisher noch niemand übernommen. Aber vierzehn Jahre nach seinem Ableben hängt seine Namenstafel noch immer an der Hauswand.