OCR Output

Thomas Northoff

Hans Naumann, 1886 in Görlitz geboren, stu¬
dierte Deutsche Philologie und habilitierte sich
1913 in Straßburg. Ab 1916 arbeitete er als
Redakteur für verschiedene Frontzeitungen.
1919 wurde er außerordentlicher Professor für
Volkskunde an der Universität Jena und war
von 1922 bis 1931 in Frankfurt am Main
Professor für „Deutsche Philologie, insbeson¬
dere ältere germanische Philologie“ und zu¬
gleich Direktor des Germanistischen Seminars.
1932 wechselte er mit demselben Aufgaben¬
gebiet nach Bonn, wo er den Lehrstuhl bis zu
seiner Amtsenthebung 1945 inne hatte. Aus sei¬
nem wissenschaftlichen Werk hat die „Theorie
vom gesunkenen Kulturgut“ (1922) die grö߬
te Wirkung entfaltet und beeinflusste bis in die
1960er Jahre Teile der Volkskunde und ande¬
rer Wissenschaftszweige: Hiernach ahmt die
Unterschicht die Kulturleistungen der prägen¬
den Oberschicht nach, wobei deren Exklu¬
sivitat ,,absinkt und zum flachen Gemeingut
erstarrt, sodass sich die Oberschicht neue Prä¬
dikate suchen muss.

Naumann verherrlichte das Dritte Reich in
Rede und Schrift, obwohl ein Teil seiner Ar¬
beiten von den Nazis sogar beschlagnahmt
wurde. Er soll ein sehr beredter, aber auch thea¬
tralischer Mensch gewesen sein, habe sich aber
auch in der Hitlerzeit den Studenten und Kol¬
legen gegenüber als toleranter Mensch ausge¬
zeichnet.

Während seiner Jenaer Jahre engagierte er sich
stark als Förderer der zeitgenössischen Lite¬
ratur und war befreundet mit Thomas Mann.
Seine „Vereinigung für praktische Volkskunde“
verschickte Fragebögen an Lehrer und Pfarrer
in Thüringen, um das „Gute, Wertvolle und dar¬
um Bleibende“ des deutschen Volkstums und
Volksguts herauszuschälen und wieder aufle¬
ben zu lassen.

Die in seinen Büchern „Primitive Gemein¬
schaftskultur* (Jena 1921) und „Grundzüge der
deutschen Volkskunde“ (Leipzig 1922) prä¬
sentierten Gedanken zum „gesunkenen Kultur¬
gut“ provozierten heftige Diskussionen. Zuneh¬
mend nahmen Experten Anstoß an Naumanns
Sicht vom Entstehen der volkskulturellen
Erscheinungen und der Sichtweise des Kul¬
turwandels einzig von oben nach unten. Viele
Kritiker verwahrten sich gegen solch eine
„Primitivenkunde“ und attackierten, wie vor al¬
lem später die Nationalsozialisten, sein psy¬
chologisierendes Modell, das der Volkskultur
ausdrücklich die „Kulturqualität“ abspreche
und die Fähigkeit zu selbständiger Entwicklung
verneine.

Naumann bezeichnete den demokratischen
Standpunkt als eine Folge romantischer Über

schätzung des Volkes. Sozialistische und kom¬
munistische Bestrebungen brächten in seinen
Augen die Rückkehr vom Individualismus zur
Primitivitat. Er glaubte fest an die Einzelper¬

sönlichkeitskultur sowie an die innere Un¬
gleichheit der Menschen.

Auch in den USA und Kanada wurden seine
Vorlesungen begeistert aufgenommen. In
Deutschland erwarb er bis 1932 eine große
Anhängerschaft auch in jüdischen Kreisen und
unter den Sozialwissenschaftlern.

1932 verfasste er die politische Bekenntnis¬
schrift „Deutschland in Gefahr“, welche die
großen Erwartungen offenbarte, die er in die
Nazipartei setzte. Er sah in der Nazipartei die
Gewähr für eine Wiederbelebung des Gefolg¬
schaftsgedankens und den Durchbruch „ger¬
manischer“ Kontinuität. 1932 war er Mitunter¬
zeichner des bekannten Tübinger Aufrufs von
51 deutschen und österreichischen Hochschul¬
lehrern zugunsten Hitlers und der NSDAP. Die¬
sen druckte am 29.7. 1932, vor der Reichstags¬
wahl, die NSDAP-Zeitung „Völkischer Beob¬
achter“ unter dem Titel „Erklärung deutscher
Universitäts- und Hochschullehrer“ ab — Sei¬
tenüberschrift: „Die deutsche Geisteswelt für
Liste 1“.

Mitglied der NSDAP wurde Naumann aber erst
1933. Im selben Jahr war er als Redner bei der
6ffentlichen Biicherverbrennung aktiv. Die
Rede sei „im Stil und Ton einer kultisch-reli¬
giösen Weihehandlung‘“ gehalten und mit
Wendungen wie „Von einer Besetzung des
deutschen Geistes wollen wir uns befreien“
durchzogen gewesen. Nach 1945 rechtfertig¬
te Naumann seine Teilnahme an der Bücher¬
verbrennung damit, dass er Schlimmeres ver¬
hüten hatte wollen.

1935, nach einem Semester im Amt, setzte man
ihn als Rektor wieder ab, weil er an der Uni zu
wenig im faschistischen Sinne durchgriff. So
lehnte er beispielsweise das Vorgehen gegen
Karl Barth entschieden ab, der den Eid auf
Hitler verweigert hatte und flüchten musste.
Ebenso wandte er sich gegen den Entzug der
Ehrendoktorwürde von Thomas Mann. Daß
ihm die Rassentheorie fremd geblieben sei, ha¬
be ihm ebenfalls Zurücksetzungen seitens der
Nazis eingetragen. Eine dem entsprechene
Haltung in mehreren Fällen wurde später aus
der Kollegenschaft bezeugt. Den Nazis hielt er
dennoch weiter die Treue.

1945 folgten Entlassung und Entzug der Venia
Legendi. 1952 wurde Naumann, der 1951 ver¬
storben war, rückwirkend ab 1949 rehabilitiert‘,
was allerdings nur mehr vermögensrechtliche
Folgen für seine Familie hatte. In seinem Nach¬
lass fanden sich umfangreiche Werke aus den
Nachkriegsjahren, die keinen Verleger fanden.

Beitrag zum „Tag der Freiheit des Worts“ am
10. Mai 2006, eine Veranstaltung der Grazer
Autorinnen und Autoren Versammlung (GAV)
im Literaturhaus Wien, koordiniert von Eva
Jancak. (Gedenken an die Bücherverbren¬
nungen in Deutschland am 10. Mai 1933).

Thomas Northoff, geb. 1947 in Wien, lebt ebd.
als Schriftsteller und Volkskundler. Schwer¬
punkt: Graffitiforschung. Baut seit 1983 das
„Österreichische GraffitiArchiv fiir Literatur,
Kunst und Forschung“ auf. Letzte Buchver¬
öffentlichungen: LUST.IG VERLIEREN
(herbstpressse 2005); Graffiti. Die Sprache an
den Wänden (Löcker Verlag, 2005). Führt der¬
zeit die bisher größte Untersuchung hinsicht¬
lich rassistischer, nationalistischer und frem¬
denfeindlicher Graffiti durch.

Anmerkungen

1 Vgl. Reinhard Schmook: „Gesunkenes Kulturgut
— primitive Gemeinschaft“. Der Germanist Hans
Naumann (1886 — 1951) in seiner Bedeutung für die
Volkskunde. In: Beiträge zur Volkskunde und Kultur¬
analyse. Bd. 7. Wien 1993, S. 10.

2 Vgl. ebd., 18.

3 Vgl. Wolfgang Kaschuba, Einführung in die
Europäische Ethnologie. München 1999, 62.

Vgl. R. Schmook, wie oben, 21.

Vgl. ebd., 23.

Vgl. ebd., 6.

Vgl. ebd., 28.

Vgl. http://www.fraenger.net/per_naumann.html

SAAN

Verstreutes

Nach einem Zeitungsbericht: Einer behinder¬
ten Heimbewohnerin wurde im steirischen
Admont von den Betreuerinnen der Mund mit
Leukoplast zugeklebt. Der Geschäftsführer des
Heimes erklärte den Vorfall: Es sei auf Wunsch
der Frau geschehen; sie habe Zahnschmerzen
gehabt und um ein Pflaster gebeten.
Abgesehen davon, daß die Ausrede des Ge¬
schäftsführers aufgrund ihrer unermeßlichen
Dummheit zu jeder Sorge über die Geschäfts¬
führung Anlaß gibt, erinnert der Vorfall an den
Tod von Marcus Omofuma am 1. Mai 1999. Er
sollte von Wien nach Bulgarien abgeschoben
werden und starb im Flugzeug, Klebestreifen
um Arme, Beine und Mund. Die bulgarischen
Pathologen konstatierten eindeutig Tod durch
Ersticken. Danach fanden Wiener Pathologen
für jedes Symptom, das auf den Erstickungstod
hinwies, eine andere Ursache, außer für den rät¬
selhaften Umstand, daß alle diese Symptome
der Erstickung zugleich festzustellen waren.
Der Arzt Kurt Grünwald hat ein dokumentari¬
sches Theaterstück darüber geschrieben. Nicht
so sehr jene brutalen Bewacher, die die Ruhig¬
stellung des ihnen Anvertrauten bis zu dessen
Tod trieben, als diese willfährigen Pathologen
waren das Symptom einer Zukunft, die ihre
Wurzeln in der Vergangenheit hatte.

Der Vorfall in Admont wurde öffentlich be¬
kannt. Es muß also jemand gegeben haben, der
ihn bezeugte.

83