Erzählungen über die schwierige Zeit des
Exils und die kargen Berichte über die Er¬
mordung von Angehörigen, die nicht zeit¬
gerecht fliehen konnten, in meiner Kindheit
und in meiner Jugend so präsent, dass ich
oft glaubte, all das, was mir im Gespräch
mit meinen Eltern nach ihrer Rückkehr
nach Wien übermittelt wurde, selbst erlebt
zu haben.
Bis heute verspüre ich gegenüber An¬
gehörigen ethnischer Minderheiten sowie
gegenüber MigrantInnen starke Sympathie.
Marianne Saxl, geborene Deutsch, war
mit dem jüdischen Arzt Dr. Paul Saal ver¬
heiratet. Dieser war ein bekannter Internist,
a.o. Professor am Wiener AKH. Er verfasste
wissenschaftliche Aufsätze und war auch an
der Erfindung eines neuen Medikamentes
beteiligt. Er starb leider schon 1932 an ei¬
nem plötzlichen Herzversagen.
Marianne wurde am 28. August 1885 in
Wien geboren. Ihre Mutter Olga, geboren
am 14.7. 1861, stammte vermutlich aus
dem Gebiet des heutigen Tschechiens.
Bis zum Einmarsch der Nationalsozialis¬
ten in Wien lebte Marianne mit ihren Töch¬
tern Gertrud (meiner späteren Mutter), Eva
und mit Olga in der Wohnung in der Sko¬
dagasse 15, wo Marianne, die als bildende
Künstlerin tätig war, auch ihr Atelier hatte.
Otto Kreilisheim musste sich und sei¬
ne damalige Freundin Gerti in Sicherheit
bringen, als die Nazis einmarschierten; die
beiden flüchteten auf verschiedenen Wegen
nach New York, wobei Otto große Probleme
hatte, eine Einreiseerlaubnis zu bekommen.
Meine Tante Eva führte ihre Flucht nach
London, wo ein für sie sehr schwieriges Le¬
ben begann.
Marianne hätte flüchten können, sie blieb
jedoch mit Olga, da diese keine für eine Aus¬
reise erforderlichen Dokumente besaß.
Keiner ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass
die beiden zurückgelassenen Frauen nicht
mehr nachgeholt werden könnten.
Marianne hatte an der Wiener Kunst¬
gewerbeschule studiert, sie war Mitglied
des Österreichischen Werkbundes und des
Verbandes bildender Künstlerinnen und hat
in den 1920er und 30er Jahren an mehre¬
ren Ausstellungen des Verbandes bildender
Künstlerinnen teilgenommen.
Im Besitz meiner Eltern befanden sich
einige wenige Kunstgegenstände, wie z.B.
Bilder, Gefäße aus Messing und von Mari¬
anne verfertigter Schmuck, die die Wiener
Wohnung, die wir nach unserer Rückkehr
aus der Emigration bezogen, schmückten.
Die meisten der Arbeiten von Marianne Saxl
sind allerdings verschwunden, als sie und
ihre Mutter von den Nazis aus der Sammel¬
wohnung im 1. Bezirk, in die sie seit 1939
eingewiesen waren, abgeholt wurden.
Olga Deutsch wurde 1942 nach There¬
sienstadt deportiert und am 26.9.1942 in
Treblinka ermordet. Auch Maraianne Saxl
wurde 1942 deportiert und am 26.5.1942
in Mali Trostinec ermordet.
Indem viele Wohnviertel Wiens, in denen
man lange angeblich nicht wusste, dass Mit¬
bürgerInnen aus bestimmten Wohnhäusern
plötzlich „verschwunden“ waren, nach und
nach durch Steine der Erinnerung mit ei¬
nem Netz des Gedächtnisses überzogen
werden, legen diese kleinen Gedenksteine
auch jenen Menschen, die später geboren
wurden, nahe, über den Zusammenhang
von Nationalsozialismus und heutigem
Rassismus nachzudenken. Es könnte hier¬
mit die Einsicht gefördert werden, dass die
Missachtung von Menschenrechten und
die Duldung von Diskriminierung aus
ethnischen oder religiösen Gründen nicht
folgenlos bleiben.
Die Steine demonstrieren im Namen der
Nachfahren von Verfolgten das Recht auf
Eva Schmidt-Kreilisheim, Urenkelin von Olga
Deutsch, Enkelin von Marianne Saxl
Das Verborgene Museum in Berlin-Char¬
lottenburg ist ein Ort, an dem Künstle¬
rinnen wie u.a. Marianne Breslauer, Else
Lohmann, Käthe Loewenthal, Eva Kem¬
lein, Lou Albert-Lasard, Lotte Laserstein,
Ilse Heller-Lazard der Vergessenheit ent¬
rissen und über klug komponierte Ausstel¬
lungen einer interessierten Öffentlichkeit
präsentiert wurden.
Jetzt erinnert das Verborgene Museum
in einer Ausstellung mit Bildern und Fo¬
tografiıen an eine Tänzerin, die im Berlin
der Zwanziger Jahre mit ihren Choreogra¬
phien das Publikum zu faszinieren wusste.
Es handelt sich um Tatjana Barbakoff.
Geboren wurde sie 1899 im lettischen
Hasenpoth, das zu jener Zeit zu Russland
gehörte, als Tsipora Edelberg, Tochter von
Genya und Aizick Edelberg. „Viele Ju¬
den geben sich in der Diaspora doppelte
Vornamen ... Tsipora nimmt auch den
Vornamen Cilia (lettisch)/Cilly an“. Als
Kind besucht sie für kurze Zeit eine Bal¬
lettschule, ohne aber eine Tanzausbildung
zu absolvieren. Vielmehr entwickelt sie
autodidaktisch in jungen Jahren eine ei¬
gene Form des Tanzes: „Ich tanze, was mir
einfällt! Was ich muss. Was ich bin.“ Nach
dem frühen Tod der Mutter und der er¬
neuten Heirat ihres Vaters geht sie im Al¬
ter von 19 Jahren mit dem deutschen Be¬
rufsofhzier in baltischen Diensten Georg
Waldmann, den sie vermutlich während
einer Tanzdarbietung kennenlernt und
später heiratet, nach Deutschland. Ge¬
meinsam mit ihm, der unter dem Künst¬
lernamen Marcel Boissier als Sänger und
Conferencier auftritt, gestaltet sie Kaba¬
rett- wie Tanzabende.
Ihr „slawisch-mongolischer Madon¬
nenkopf“ lässt sie selbst „von ihrer an¬
geblichen chinesischen Mutter“ sprechen,
erregt Aufmerksamkeit und erste Künst¬
lerfotos werden von ihr gemacht. Bereits
1921 hat sie ihren ersten Auftritt mit ei¬
nem eigenen Programm, zu dem Parodi¬
en, russische und chinesische Tänze gehö¬
ren. Weitere Soloprogramme, mit denen