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Gestörte Bürgerlichkeit Vor der Rezensentin liegen zwei umfangreiche Bände im Umfang von über 1.300 Seiten, die eine sorgfältige Edition von Dokumenten, einigen Fotos und vor allem Briefen von vier mitteleuropäischen Familien aus dem Zeitraum 1802 bis 1948 umfassen. Diese Bände beinhalten unschätzbare mentalitätsgeschichtliche Zeugnisse des mitteleuropäischen assimilierten, teilweise bereits getauften jüdischen Bürgertums. Die vier Familien lebten in Ostpreußen, Böhmen und Österreich. Das Exil bzw. eine Heirat führten sie in die Schweiz, nach Palästina/lsrael, in die USA und nach Argentinien. Die meisten Dokumente gruppieren sich um die Familie des Wiener Rechtsanwalts Hans Mittler. Er heiratete 1931 Rose Schidorsky aus Eydtkuhnen, einem wichtigen Grenzort an der Eisenbahnstrecke BerlinWilna-Moskau. Hans Mittler war depressiv veranlagt und beging 1931, während der Wirtschaftskrise, Selbstmord. Die einzige Tochter Eva heiratete 1936 den Schweizer Juristen Kurt Ehrlich und übersiedelte nach Zürich, nicht ohne sich vorher taufen zu lassen. In einem Brief an ihren künftigen Ehemann beschreibt Eva Mittler ausführlich ihren inneren Konflikt, sich dem Judentum nicht mehr als Religion, aber doch noch als Volks- und Solidargemeinschaft verbunden zu fühlen. Kurt Ehrlich seinerseits wurde 1905 in Prag geboren; seine Eltern wanderten 1907 in die Schweiz aus. Kurts Vater Alois Ehrlich hatte sich bereits vor seiner Heirat mit Martha Hoevel taufen lassen. Evas Mutter Rose Mittler gehörte in Wien zum Zirkel um den österreichischungarischen Philosophen Oskar Ewald, von dem auch ein Brief abgedruckt ist, und sie besuchte die Sonntagsfeiern der Ethischen Gemeinde, bei denen sie fasziniert Wilhelm Börners Predigten lauschte. Rose Mittles Bruder Walter Schidorsky führte in Eydtkuhnen eine Speditionsfirma. Zusammen mit seiner Frau Roma emigrierte er 1934 nach Palästina, wo er in Jaffa die Firma weiterführte. Ihr Sohn Dov (Berni) ist einer der führenden israelischen Bibliothekshistoriker und leitete von 1969 bis 1991 die School of Library, Archives and Information Studies der Hebräischen Universität in Jerusalem.Leser der ZW und Kenner der Exilliteratur werden in dem Werk nicht wenige weitere Namen wiedererkennen. Ein Bruder von Hans Mittler, Alfred Mittler, hatte eine Tochter namens Helene. Sie heiratete Gustav Bauer, den Vater des Schriftstellers und Theodor Kramer-Preistragers Alfredo Bauer. Ein zweiter Bruder von Hans Mittler, Josef Mittler, war der Vater des Komponisten und Dichters Franz Mittler. Anna, die zweite Tochter von Alfred Mittler, war mit Generalmajor Emil Sommer, dem ersten Bundesführer des Bundes jüdischer Frontkämpfer und ab 1934 Führer der Legitimistischen jüdischen Frontkämpfer, verheiratet. (1946 zitiert Anna Sommer ihre Schwester Helene, die ihr über ihren Sohn Alfredo berichtete, dass er dichte, "Theaterstücke schreibe, „prachtvoll schön“ und „ungemein begabt und vielseitig“ sei.) Kenner des Wiener Judentums werden neben den Zeugnissen über die Familie Sommer in dem Werk aber noch zwei weitere bekannte Wiener jüdische Familien finden: Eine der Nachbarn von Hans und Rose Mittler in der Porzellangasse war der Kaufmann Josef Rath. Dessen Söhne Max und Ari flüchteten 1938, wie Rose Mittler an ihre Tochter Eva schreibt, nach Palästina, wo sie Landwirte werden wollten. Max Rath wurde jedoch Rechtsanwalt und Ari Rath bekanntlich Chefredakteuer der „Jerusalem Post“ und ein im heutigen Österreich gern gesehener Gast und Vortragender. Zum Umkreis der Familie Ehrlich in der Schweiz gehörte auch der Maler und Schriftsteller Carry Hauser. Im August 1938 wurden der Regierungsrat Oppenheim, seine Frau und seine Tochter bei Rose Mittler einquartiert. Sie konnten später in die USA flüchten, während Rose Mittler im Juni 1939 zu ihrer Tochter in die Schweiz ging. Da in den Briefen jedoch niemals der Vorname Oppenheims erwähnt wird, gelang es der Herausgeberin Narvik, Eismeerfront, heldenhafter Kampf: Wer in Kärnten oder Osttirol aufgewachsen ist, egal ob in den 40er, 50er, 70er oder 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, wurde mit dieser Irias der Kriegserinnerung geimpft. Die Oden auf den Überfall der nicht, ihn als Hermann Oppenheim zu identifizieren. Dieser war als Präsident der Union österreichischen Juden (ab 1934) einer der prominentesten Funktionäre des Wiener Judentums in den 1930er Jahren. Der zweite Band enthält vor allem Briefe aus der Schweiz, aus Palästina und die berührenden Schilderungen von Anna Sommer und Rose Mittler über ihr Wiedersehen mit Wien. Besonders hervorzuheben sind die hier dokumentierte Auseinandersetzung von Kurt Ehrlich mit dem Führer der Schweizer Frontisten, Robert Tobler, über die „Judenfrage“ und das Ringen um eine Toleranzkaution, Toleranzbewilligung und schließlich (ab 1950) um ein Dauerasyl für Rose Mittler. Die Herausgeberin des Werkes, die Schweizer Historikerin Marthi PritzkerEhrlich, war die Tochter und Kurt und Eva Ehrlich. Sie hat von 1995 bis 1998 an der Edition gearbeitet, konnte sie jedoch vor ihrem tragischen Krebstod im Alter von 54 Jahren im April 1998 nicht mehr vollenden. Ihr Witwer, der Schweizer Physiker und Verleger Andreas Pritzker, hat die Transkriptionen durch Einleitungen, Fußnoten und bibliographische Angaben ergänzt und zum Druck gebracht. Die beiden Bände „Gestörte Bürgerlichkeit“ enthalten, wie hier angedeutet wurde, mit ihrer erstaunlichen Fülle von beeindruckenden persönlichen, menschlichen und historischen Dokumenten — die sogar durch einen Index erschlossen sind — ein überaus wichtiges, präzise ediertes und kommentiertes Quellenmaterial für künftige Historiker des mitteleuropäischen Judentums. Evelyn Adunka Marthi Pritzker-Ehrlich: Gestörte Bürgerlichkeit. Zeugnisse einer jüdisch-christlichen Familie in Briefen, Dokumenten und Bildern. Mit einem Vorwort von Heiko Haumann. Band 1, 1802 bis 1937. Band 2, 1938 bis 1948. Brugg (Schweiz): Munda Verlag 2007. 685, 637 S. Euro 49,-, 47,in Norwegen Wehrmacht auf Norwegen im April 1940 setzten unmittelbar nach der Tat ein, die „Heimkehrer“ sorgten für die Fortführung, die Gründung des österreichischen Bundesheeres bot eine institutionelle Verankerung. Die Kontinuitäten waren personell: Anton 1-2/2010 85