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Editorial Diversionen — man kann nicht jedes Ihema frontal angehen, man muß sozusagen von der Seite angreifen, wie es etwa Ulrich Becher mit seinem in Brasilien spielenden Hitler-Stück getan hat. Oder man kann etwas über die russischen Bauern in Sibirien erzählen, indem man von einem dorthin verschleppten jüdischen Geigenvirtuosen berichtet. Nicht vom Glücke, sondern von seiner „Belagerung“ zu sprechen, konfrontiert zwar mit einer als uneinnehmbar geltenden Festung, ertastet aber inder Umgehungdie Anwesenheit menschlicher Wesen. Andere Wege führen durch das lange abgetane historische Galizien und verweisen doch wieder auf die großen Fragen der Zeit. Eine Diversion — im Sinne der Erweiterung des Forschungsansatzes — ist auch das Interesse fiir das Schicksal und die Rolle der Freimaurer im Exil, oder aber der autobiographische Bericht über den israelischen Unabhängigkeitskrieg, der Kräfte, die wenige Jahrezuvor noch mit Hitlerdeutschland paktiert hatten, in die Schranken wies. Als ein Manöver der Diversion kann übrigens auch der Theodor Kramer Preis für Schreiben im Widerstand und im Exil angesehen werden — denn er erschließt die Qualität des Ästhetischen gewissermaßen von der Seite her, von einer Fragestellung, die eine Perspektivierung ermöglicht, ohne jedoch zu distanzieren. Ein großer Erfolg war das Kolloquium über Grundprobleme der österreichischen Exilliteratur, das Ende September vom Verein zur Förderung und Erforschung der antifaschistischen Literatur in Zusammenarbeit mit dem Institut für Österreichkunde und der TKG veranstaltet wurde. Die Vorgabe, das jeweilige Thema in nicht mehr als zehn Minuten thesenhaft abzuhandeln, erwies sich als anregend und ermöglichte lebendige Diskussionen auf höchstem Niveau. Das Kolloquium war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem Handbuch der österreichischen Exilliteratur. Die Ergebnisse des Symposiums „Subjekt des Erinnerns?“ und der Festveranstaltung zum 25jährigen Bestehen der TKG im September 2009 werden demnächst in Form des Jahrbuch XI der TKG vorliegen. Es ist ein Buch der gegenseitigen Kenntnisnahme und der Verständigung über regionale, institutionelle und fachliche Grenzen hinweg. Zu den neuen Skurrilitäten der österreichischen Politik gehört der allseits begrüßte Vorschlag der Sozialpartner, für beruflich qualifizierte Zuwanderer eine Rot-Weiß-Rot-Karte einzuführen, welche sie und ihreallernächsten Angehörigen zum Aufenhalt im Lande berechtigen solle, ohne daß sie ihr Leben in Auffanglagern und Schubhaftzentren fristen müssen. Ein Land, in dem bosnische Tierärzte als Käfigwärter, ägyptische Agraringenieure als’Iaxifahrer, afrikanische Filmemacherinnen als Putzfrauen werken und aus dem kostspielig ausgebildete Jugendliche abgeschoben werden, hat den Humor, Fachleute ausdem Auslande zu werben. Statt das vorhandene Potential zu nützen, die Fähigkeiten von Menschen, die dasind, zu entwickeln, wird frisches Menschenfutter begehrt, dem, wenn es beim richtigen Loch hereingekrochen ist, die immer neuen Einfälle heimischer Polizeibürokratie noch manche bittere Träne abpressen werden. Der Vorschlag setzt eine unselige Geschichte fort, die mit der kollektiven Abwehr einer Rückkehr der Überlebenden des nationalsozialistischen Massenmordes begonnen wurde. Für die, die aus dem Exil oder den Lagern zurückkehrten, fanden sich auch in den glorreichen Zeiten des „Wiederaufbaus“ nur wenige Arbeitgeber. Ihre im Exil erworbenen Qualifikationen wurden in aller Regel weder anerkannt, noch genützt; wenn sie es dennoch zu etwas brachten, war es ihrer persönlichen Tatkraft, Intelligenz und Ausdauer zuzuschreiben. Österreichs Botschaft an die Exilierten lautete bis in die 1970er Jahre hinein, sie seien hier nicht willkommen. Die Botschaft wurde vernommen, und das Land verschleuderte damit, wie schon oft bemerkt wurde, ein enormes wissenschaftliches, intellektuelles und humanes Potential. Die Achse, um die sich das ofizielle Österreich damals wie heute in seinen Verlautbarungen dreht, ist eine absolute Inhumanität, die ausschließlich aufdie Nutzbarkeit von aus dem Auslande Kommenden bedacht ist — für die Aufrecherhaltung „unseres Sozialsystems“, den Fremdenverkehr, die industrielle Standortpflege, die Korrektur der Alterspyramide, wie immer. Hier sind die Verschwender äußerst rechenhaft, hier wurde an den Zuwanderern mit enormen Folgekosten ordentlich gespart. Wir wiinschen viel Gliick. Siglinde Bolbecher, Konstantin Kaiser ... Ihr habts die besseren Nasen gehabt Freddy: Sie sind doch Frau Kleinhöfler, von der Apotheke. Ja? Frau Kleinhöfler: Jessas, der junge Herr Wolff, bin i jetzt derschrocken. Das is schön, daf Sie noch amal an die Kleinhöflers denken. Freddy: Ich hab sogar sehr oft an Sie gedacht, Frau Kleinhöfler. Frau Kleinhöfler: Mein Gott, des is liab. Wie is Ihnen denn so gangen in der neuen Welt? Gut, gut, gell ja? Wohingegen wir beim Russen... Frau Kleinhöfler: Ja, ihr habts die besseren Nasen ghabt. Europa ade, keine Träne nachgweint, und umi! Kinder (kommen. Zu Freddy): Tschokolad, pliiise! Tschungum! Freddy verteilt Schokolade. Treschensky: Sag einmal, wieviel Schokolad hast jetzt hergschenkt? Freddy: Keine Ahnung. Treschensky: Herst, das warn doch zehn Riegel Schokolad. Des macht a Stangen Lucky Strike. Und für a Stangen kriegst dreißig Dollar im Schleich. Für dreißig Dollar kannst dir aus Amerika acht Micky-Uhren expedieren lassen. Die verscherbelst normalerweise dem Iwan für 250 Dollar das Stück. Oder fürn Gegenwert. Manchmal mehr. Meistens mehr. Herst, du hast hier für gut und gern zwaatausend Dollar Tschokolad verpulvert, ist dir des klar! Aus: Georg Stefan Troller: Wohin und zurück. Die Trilogie. Drehbuch zur gleichnamigen Filmtrilogie von Axel Corti. Mit einer Einleitung des Autors und einem Nachwort von Ruth Beckermann. Wien: Theodor Kramer Gesellschaft 2009. 201 S. Euro 21,-/SFr 32,40 3/2010 3