Von hölzernen Kirchen und verschwundenen Synagogen
Von L'viv reisen wir miteinem Kleinbus weiter. Unser nächster Halt
ist Zolo£iv: Vor den zahlreichen Kirchen drängen sich die Menschen,
überall sind Fronleichnamsaltäre aufgebaut. Auch hier gab es vor
dem Zweiten Weltkrieg eine lebendige jüdische Gemeinde, heute
lässt sich schwer feststellen, wo die Synagoge stand, vielleicht auf
jenem Platz, wo heute der Busbahnhofist. Wir besuchen das Schloss
von Zolo£iv. Von der Familie Sobieski erbaut, ist es heute ein Muse¬
um, das Kunst und ethnologische Sammlungen beherbergt. Im 19.
Jahrhundert war hier ein Spital untergebracht, dann ein Gefängnis:
Der NKWD internierte, folterte und tötete hier in großem Maßstab
politische Gefangene. Nach dem Einmarsch der Deutschen im Jahr
1941 wurde das Schloss zum Ort der Vernichtung der jüdischen
Bevölkerung, die Schlossgräben wurden zu Massengräbern. Während
die Schlosschronik letzteres Ereignis kaum erwähnt, finden sich im
Schlosshof nebeneinander zwei neue Gedenktafeln, die beider Mas¬
senmorde gedenken.
In Rohatyn besuchen wir eine Holzkirche aus dem 16. Jahrhun¬
dert mit einer prächtigen Ikonostase, um deren Erhalt mit Hilfe der
UNESCO gekampft wird. In diesem Ort begegnen wir auch der Figur
der schönen Roxolana, die 1520 von den Tartaren gefangen genom¬
men und als Sklavin an den tiirkischen Sultan verkauft wurde. Als
erste Sklavin stieg sie zur einflussreichen Ehefrau des Sultans aufund
wurde zum Mythos, dem zahlreiche Bücher und Filmegewidmetsind.
Ostereier und falsche Fährten
Eine weitere Station unserer Reise ist Ivano-Frankivsk. Die Stadt strahlt
ein hohes Maß an Lebensqualität aus, hierher zieht es viele junge
Menschen. Unser Stadtspaziergang führt uns durch die Fußgängerzo¬
ne, die Shopping-Meile und Openair-Kunstgalerie zugleich ist, zum
1927 erbauten Rathaus. Durch die stufenförmige Bauweise — wobei
jede Stufe einen anderen Grundriß hat - wirkt das Gebäude wie ein
Turmbausatz. Von Ivano-Frankivsk machen wir uns auf Richtung
Karpaten: Wir besuchen Kolomyia, die Hauptstadt der huzulischen
Minderheit, heuteein beliebter Aufenthaltsort für Winterurlauber, die
in den Karpaten Skiurlaub machen. Kolomyia ist auch die Heimat des
Pysanka-Museums, des Östereimuseums, daskaum übersehen werden
kann, da es die Gestalt eines überdimensionalen bemalten Eies hat.
In dieser Stadt des Ostereies waren einst 50 Prozent der Bevölke¬
rung Juden. Angeregt durch die Lektüre von Omer Bartovs Erased,
Vanishing traces of Jewish Galicia® wollen wir die Synagogenruine
suchen. Wir halten nach ruinenartigen Überresten Ausschau, die wir
auch finden, aber es ist eine stillgelegte Baustelle. Schließlich stehen
wir vor einer neugebauten Synagoge, es muss hier auch heute noch
eine aktive jüdische Gemeinde geben. Ob diese Synagoge jedoch dort
steht, wo auch vor dem Zweiten Weltkrieg das Gebetshaus stand,
können wir nicht herausfinden.
Ich will da sein, wenn die Zeit gefriert, ich will da sein, wenn es passiert“
Auf unserem Weg nach Przemysl haben wir einen Termin mit der
kakanischen Großmacht: Die Ölfelder Galiziens in Boryslav warten
auf uns. Galizien wurde gemeinhin mit dem „galizischen Elend“
assoziiert — und doch war die Region Anfang des 20. Jahrhunderts
als „galizisches Kalifornien“ international bekannt. Nach den USA
und Rumänien gehörte Galizien 1909 zu den größten Erdölprodu¬
zenten weltweit.
Mitten in der Landschaft zwischen Häusern und Bäumen stehen
heute noch die Förderpumpen. Sie erinnern an Brunnen, die eine
oder andere arbeitet noch. Wir nähern uns einem dieser Relikte und
stehen buchstäblich im Öl, das Öl ist hier so nahe an der Oberfläche,
dass esauch ohne Förderung austritt. Manche Spuren lassen sich nur
schwer verwischen.
Auf unserer Weiterfahrt nach Sambir werden die Straßen immer
schlechter, nicht nur die wirtschaftlichen Probleme der Ukraine
spiegeln sich im Straßenbau wieder, auch gab es hier dieses Jahr
schwere Überschwemmungen, die für die Unterspülung der Straßen
verantwortlich zeichnen. Ausdem Lautsprecher des Autos tönennun
passender Weise Textzeilen von „Wir sind Helden“: Vor zwei Tagen
ging mein Wagen in die Knie... er sagte... ich weiß nicht weiter, ich
weiß nicht wo wir sind...
In Sambir wollen wir den ehemaligen jüdischen Friedhof sehen.
Hier, unweit vom zentralen Marktplatz gelegen, beerdigte die jüdische
Bevölkerung Jahrhunderte lang ihre Angehörigen. Unter deutscher
Besatzung wurde der Friedhof zum Schauplatz der Ermordung von
Juden aus Sambor und Umgebung. Zu Sowjetzeiten hatte der Friedhof
seine eigentliche Funktion verloren und wurde 1975 planiert. Ein
Sportplatz sollte auf dem Gelände entstehen. Als man im Jahr 2000
mit der Errichtungeines Gedenkparksan dieser Stelle begann, wurden
dort buchstäblich über Nacht von ukrainischen Nationalisten drei
Holzkreuze aufgestellt.
Wir gehen über das Feld, das nicht mehr als jüdischer Friedhof zu
erkennen ist, wir stolpern über Grabsteine... Auch hier verwischte
Spuren und verdrängte Geschichten, diean die Oberflächekommen.
Um nach Przemy$l zu gelangen, müssen wir eine heutige Grenze
überqueren. Die Grenze zwischen Ukraine und Polen ist eine EU¬
Außengrenze und wir bekommen eine vage Vorstellung davon, was
es heißt, in die Festung EU einreisen zu wollen.
Als wir verspätet in unserem Hotel in Przemyl eintreffen, bekom¬
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Schloss Zolociv — die Schlossgräben wurden zu Massengräbern