Westseite des Central Parks, parallel zum Broadway bis nach Harlem.
Uli lebt in Yorkville, dem deutschen Viertel, auf der gegenüberlie¬
genden Seite des Central Parks. Er wohnt dort in einer winzigen
Mansarde in Untermiete. Seine Eltern warnt er vor dem, vor allem
im Sommer, höllischen Klima in New York; gleichzeitig unterstützt
er ihre Versuche, sich Einreisevisas in die USA zu verschaffen. Kurz
vor meiner Geburt ist es zu einem Streit zwischen Roda Roda und
seinem Kontrahenten in Brasilien, Richard Becher, über die Auftei¬
lung des Lebensunterhalts des zu erwartenden Kindes gekommen.
Uli stellt sich in diesem Konflikt eher auf die Seite seines Vaters, gibt
aber zu bedenken, dass Roda, an Leukämie erkrankt, vermutlich
nicht mehr lange zu leben habe. Man müsse ihm einiges nachsehen.
Doch der Bruch zwischen den beiden nicht unvermögenden Ru¬
heständlern, dem Schriftsteller und dem Rechtsanwalt, wird nicht
mehr zu kitten sein. Der Briefkontakt zwischen ihnen bricht ab,
und zwischen den Familien kommt es später zu einem Agreement,
was die Aufteilung der Kosten betrifft. Hitlerdeutschland liegt zur
Zeit meiner Geburt, im Oktober 1944, zwar schon in den letzten
Zügen, das hindert Uli nicht daran, mir nach der Entbindung in
einem Spital in Harlem vor einem Spiegel mit einem Glas Wein
zuzuprosten, auf dass ich ein guter Kämpfer gegen den Faschismus
werde. Er bleibt auch in New York, was er im Grunde schon immer
war und bleiben wird: ein kämpferischer Individualist.
"Ihemen für seine literarische Arbeit zu finden, fällt ihm fortan
nicht schwer: „Ich lebe in der Apokalypse und kann darum fürs
erste nichts anderes als Apokalyptisches schreiben“, meldet er sei¬
nen Eltern, die erst nach Kriegsende im Oktober '45 in die USA
einreisen können. Als Zeitgenossen apokalyptischer Zeiten und
als ihren Chronisten wird sich Uli bis in die letzten Jahre seiner
literarischen Produktivität begreifen.
Die Briefe aus dem letzten Kriegsjahr geben Einblick in die öko¬
nomische Situation der aus Deutschland und Österreich emigrierten
Künstler, die, wie Uli meint, hauptsächlich vom Mäzenatentum
leben. „Ich aber schnüffle weiterhin nach einem Mäzen“, bemerkt
er sarkastisch. Doch die Schnüffelei wird erfolglos bleiben. 1948
kehren Uli und Dana Becher mit ihrem damals knapp vierjährigen
Sohn Martin, Danas Mutter Elsbeth Roda Roda, sowie Richard
und Elise Becher auf dem Ozeandampfer „Queen Elisabeth“ nach
Europa zurück. Während sich die Eltern Becher in Basel niederlas¬
sen, nehmen Uli und Dana das alte Wanderleben wieder auf- ein
ständiges Pendeln zwischen Wien und Basel, München und Berlin,
und dazwischen immer wieder Aufenthalte auf dem Land, wo Uli
nach wie vor am besten arbeiten kann. Das Antinazistück „Der
Schauspieler Peter Preses noch in New York verfasst, wird 1948
mit großem Erfolg in Wien uraufgeführt. Es ist der Beginn seiner,
allerdings nur wenige Jahre dauernden, Karriere als Bühnenautor.
Die Theaterstücke des „havarierten Europäers“, wie ihn der Basler
Philosoph und Publizist Arnold Künzli charakterisierte, behan¬
deln die Schicksale von Emigranten, Schauplätze sind Stehbars
und Hotelhallen, die Aufenthaltsorte der Heimatlosen. „Bechers
Liebe“, schreibt der Theaterregisseur Ludwig Berger (der die Ko¬
mödie „Mademoiselle Löwenzorn“ in Berlins „Schlossparktheater“
inszenierte, „gilt den Ankommenden und Abreisenden und all denen,
die nicht zur Ruhe kommen, und das einzige Gut, das sie besitzen,
in sich selber tragen.“ So lassen sich auch die Briefe an die Eltern
charakterisieren — es sind Dokumente der Ruhelosigkeit.
Martin Roda Becher, geb. 1944 in New York City. Schrifisteller, Drehbuchau¬
tor, Literaturkritiker, Verfasser von Romanen und Erzählungen, Drehbüchern,
Hörspielen, Theaterstücken; Mitarbeiter verschiedener Zeitungen, Zeitschriften
und Rundfunksender.
Sohn von Ulrich und Dana Becher. Er wuchs in Wien, München und Berlin
auf. 1965-68 Schauspiel- und Regieausbildung; Drehbuchautor für Spiel¬
und Dokumentarfilmproduktionen. Er lebt als freier Schrifisteller in Basel.
Durchschauen. — Man erwartet mitunter, dass jemand etwas verstan¬
den habe oder zumindest sagt, er oder sie habe etwas verstanden
oder gar begriffen, doch der Herr oder die Dame meint, sie habe
das jetzt durchschaut. Was hat es mit dieser Mode des Durchschau¬
ens auf sich, die wiedergekehrt scheint aus den schlimmen 1930er
Jahren, als alte Volksseuche auf die Urenkel noch vererbt? Man
durchschaut die Machinationen der Politiker, die Winkelzüge der
Advokaten, die Tricks der Spekulanten, sogar die Werke der Kunst
durchschaut man endlich. Geradezu antiautoritär gebärdet sich das
Durchschauen. Die vorgespiegelten Probleme erweisen sich den alles
Durchschauenden als Inszenierungen, hinter denen jemand steckt.
Diese Seite der Angelegenheit mit ihren Konsequenzen - bis hin
zu dem Einfall, die CIA und selbstredend auch der Mossad hätten
den Anschlag auf die Twin Towers eingefädelt, um den Vorwand für
einen Krieg zu liefern - ist längst bekannt. Der Politik, der Justiz,
den Banken und der Kunst gegenüber ist jedenfalls Mißtrauen
angesagt, wobei man sich vor letzterer, der Kunst, wenigstens nicht
zu fürchten braucht. Rechtschaffenheit findet man nur in der Nähe,
etwa beim Anlageberater der Ortssparkasse oder bei dem smarten
Politiker, der die Nähe zu den „Menschen draußen“ nicht scheut.
Es existiert also neben der Sphäre der Verkommenbheit der Instituti¬
onen, der Niedertracht ihrer Repräsentanten, der Verlogenheit der
öffentlichen Sprecher eine andere Sphäre, in der das Heil zu suchen
ist. Und dort sind die alles Durchschauenden dann vertrauensselig.
Jede Niederlage, die sie ohnmächtig hier erleiden, schärft dort ihren
Durchblick, alles Unrecht, das ihnen hier widerfährt, steigert dort
ihr Gefühl, im Recht zu sein und es somit auch zu haben.
Adornos vielstrapaziertes Wort, es gebe kein richtiges Leben im
falschen, sollte als Warnung vor dem Glauben an das Falsche ge¬