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über „Mütterchen“ (wie er die Sowjetunion
nannte): „Was ist bei Mütterchen geschehen?
Etwas Niedagewesenes: Menschen, die um
der Gerechtigkeit willen Revolution mach¬
ten, schlachteten die Gerechtigkeit, schlach¬
teten die moralischen Begriffe. Statt wahrhaftig
zu sein, sind sie Lügner. Und das spürt man
überall, wo man hinkommt. Die Intelligenz¬
Sympathiker haben sich abgewendet [...]“

In einer der schönsten Stellen des Briefwech¬
sels schildert er, wie er in einem Stetl in Polen
im November einen armen, hungrigen Gas¬
senjungen mit „ungewöhnlich großen klugen,
Augen“, der „buchstäblich kein Hemd [...],
keine Schuhe und keine Mütze“ hatte, in eini¬
gen kleinen Lädchen einkleidete. Er endet mit

dem Satz: „Lotte, dieses glückliche, strahlende
Gesicht hättest Du sehen sollen!“

Die sorgfältige Edition enthält neben einem
Anmerkungsapparat und einem Register auch
ein Nachwort über die Hintergründe der Ver¬
haftung und Freilassung in Moskau von Rein¬
hard Müller. Die Originale der Briefe sind Teil
des umfangreichen Nachlasses im Archiv der
Akademie der Künste in Berlin.

EA.

Alexander Granach: Du mein liebes Stück Hei¬
mat. Briefe an Lotte Lieven aus dem Exil. Hg.
von Angelika Wittlich und Hilde Recher. Augs¬
burg: Olbaum 2008. 471 S. Euro 29,90

Der Zsolnay-Verlag, seit einigen Jahren mit
dem renommierten Münchner Literaturver¬
lag Carl Hanser verschmolzen, hat den guten
Einfall eines kleinen Gauß-Festivals, wofür es
keinen besonderen Anlaß brauchte: Es war
nämlich überfällig. So erleben wir nicht nur
die in angenehm-anheimelnder Ich-Erzählung
gehaltene Sammlung „Im Wald der Metro¬
polen“, sondern als willkommen-erhellenden
Kommentar die „Grenzgänge“, in denen von
Daniela Strigl und Herbert Ohrlinger heraus¬
gegeben Freunde, Kollegen und Weggefährten
uns das Phänomen Gauß näherbringen.
Denn Gauß ist ein Phänomen; es stellte sich
langsam heraus, ist heute aber nicht mehr
zu übersehen. Vor eineinhalb Jahrzehnten
veröffentlichte er sein großes Manifest mit
der Frage, ob es eine österreichische Litera¬
tur gebe, und schrieb damals unter anderem:
„Die österreichische Literatur ... hat außer
ihren deutschen Bezügen ihre starken mittel¬
europäischen Zuflüsse und südosteuropäischen
Spannungen. Und das ist weiter auch gar nicht
verwunderlich, denn wozu lebt man schlie߬
lich so viele Jahrhunderte mit so vielen Völkern
unter einer Krone.“

Über diese Zielsetzungen, dieses Blickfeld ist
Gauß seither nicht hinausgelangt, aber er hat
den abgesteckten Raum abgeschritten, und
wenn man die Aufsätze und Bücher zur Hand
nimmt, die das Ergebnis dieser Bemühungen
sind, so hat man den Eindruck, Gauß sei der
erste gewesen, der dies versuchte. Es gibt kei¬
nen zweiten Essayisten, der in diesem The¬
menbereich mehr Unbekanntes oder kaum Be¬
kanntes zutage gefördert hätte, und selbst ein
uralter Vielwisser wie ich schlägt sich betroffen
an die Brust, wenn Gauß im achten Kapitel

seines neuen Buches über „Schlonsaken, Was¬
serpolaken und Lachen“ schreibt, diese Seiten
aber uns zum Trost dann doch einen „Exkurs
zur Verwirrung“ nennt.

Der „Wald der Metropolen“ ist unerschöpflich
und hier nicht zu subsumieren, denn auf die¬
sen dreihundert Seiten bietet Gauß die ganze
Palette seiner inzwischen überreich gediehenen
Impressionen in erholsamen Wechsel der Dar¬
stellungsweise: „Die Republik von der Piazza
San Francesco“ ist eine köstliche Miniatur aus
Neapel, reine Musik, man möchte diese Klein¬
welt nicht mehr verlassen; die Begegnung mit
dem elsässischen Schlettstadt, das Gaußische
Bekenntnis, daß auch ihm noch Überraschen¬
des zuwächst, wenn er hinter dem heutigen S£¬
lestat das alte Grenzland im Westen entdeckt.
Rastlose wie Gauß sind oft ungeduldig: Das
Elsaß macht er schon 1939 zum Reichsland,
obwohl vor dem Mai 1940 nur der vorwitzi¬
ge Spähtrupp des Hauptmanns Ernst Jünger
den Rhein überschritten hat. Feuchtersleben
mahnt dann aus der Ferne verflossener Zeiten:
„Der Mensch kann nicht immer zu allem auf¬
gelegt sein, aber er ist immer zu Etwas aufge¬
legt, dies thue er!“

Gauß tut es, auch auf die Gefahr hin, daß er
seine Sammlung ein „Buch der Abirrungen“
nennen muß, aber keineswegs von Verirrungen
sprechen müßte, denn was immer er findet,
und sei es so kurios wie Soliman, den ausge¬
stopften Aufklärer, vermehrt unser Wissen und
unser Staunen im Kernbereich seiner Themen:
das Ausschreiten der unbekannten Nähe. Da¬
bei schont Gauß die Leser des 21. Jahrhun¬
derts, weil es ihm fern liegt, ein Gruselkabinett
heraufzurufen, was nicht sehr schwer wäre. Er
schildert uns zum Beispiel die Hinrichtung

des ungarischen Rebellen Georg Dosza, erspart
dem Leser aber das kannibalische Ende seiner
Gefährten; daß von diesen Abmilderungen
zum Beispiel in den Seiten über den Spiel¬
bergauch die Habsburger profitieren, war wohl
keine Absicht.

Die „Grenzgänge“ beginnen mit einem großen
Dreiergespräch Gauß-Strigl-Ohrlinger, in dem
der Mittfünfziger Gauß eine Art Credo des
Kritikers entwickelt, Jean Am£ry und Alfred
Polgar als Vorbilder nennt, sich aber dazu be¬
kennt, daß Gegnerschaft und Polemik die Mo¬
tive seiner frühen Arbeiten waren. Wie diese
aus dem Sachlichen zum Persönlichen weiter¬
schritten, so daß Gauß sie niemals Sachbücher
nennen wollte, erfahren wir auf größtenteils
unterhaltsame Weise von den Gefährten seiner
Studienreise, etwa von Kurt Kaindl. So alt wie
Gauß, studierter Germanist und später zum
engagierten Photographen geworden, machte
Kaindl nicht nur den Chauffeur, sondern teilte
bewußt und verständnisvoll die Besonderhei¬
ten dieser Reisen, bei denen Sparsamkeit ange¬
sagt war, weil es von keiner Seite Fördermittel
gab, aber auch, weil die beiden Sucher in den
großen Hotelkästen nicht das Volk angetrof¬
fen hätten, dem aufs Maul zu schauen sich
lohnte. Unverdrossen von Konak zu Konak
dümpelnd, eroberten die beiden Fünfziger sich
die alten österreichischen Vorlande im Süden
und Südosten. Ein anderer Reisegefährte ist
der in Warschau geborene Schriftsteller Andrej
Stasiuk, und einer, der gerne dabei gewesen
wäre, ein widerwilliger Bewunderer von Karl¬
Markus Gauß, ist der Essayist Franz Schuh
mit einem der längsten Beiträge des Bandes.
Wenig vertreten sind die Frauen. Man kann
sich vorstellen, daß bei einer Huldigungs-An¬
thologie für Lernet-Holenia, für Friedrich Tor¬
berg oder auch Alberto Moravia ein Halbdut¬
zend Frauen die Feder gezückt hätten: Darum
hätten wir gerne mehr erfahren von Madame
Gauß, die Kinder mit fremden Muttersprachen
unterrichtet, eine Tatsache, die es Gauß wohl
erleichterte, aus dem Thomas Mann‘schen
„Ethos des Standhaltens“ eine Lebensaufgabe
zu machen.

Hermann Schreiber

Karl-Markus Gauf: Im Wald der Metropolen.
Wien: Paul Zsolnay 2010. 304 S. Euro 20,50
Herbert Ohrlinger, Daniela Strigl (Hg.): Grenz¬
ganger. Der Schrifisteller Karl-Markus Gauf.
Wien: Paul Zsolnay 2010. 272 S. Euro 20,50

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