Zu allem Überfluss war heute Mittwoch. Sie war nicht abergläu¬
bisch, aber sie war jedes Mal froh, wenn der Mittwoch vorüber
und nichts passiert war. An einem Mittwoch war es gewesen,
dass ihr Mann den Auftrag bekam, einen Asylwerber ins Lager
zu begleiten. Dort werde er seine Papiere bekommen, sagte der
zuständige Beamte. Der Flüchtling war sehr verstört und weigerte
sich mitzukommen, offenbar verstand er das Wort „Lager“, aber
nicht den Zusammenhang. Ihr Mann glaubte dem Beamten und
redete dem Flüchtling gut zu, sie fuhren ins Lager. Die Papiere,
die man dem Asylwerber dort aushändigte, waren sein Abschie¬
bungsbescheid, zwei Polizisten führten ihn ab.
An dem Abend lief die Frau verzweifelt durch die leere Woh¬
nung. Es gab niemanden, den sie nach ihrem Mann fragen konnte.
Als er endlich heimkam, sah er zum Fürchten aus, die Haare
zerrauft, die Augen leer, Schuhe und Hose mit Lehm bespritzt.
Sie streckte die Arme nach ihm aus, er schob sie zur Seite, schloss
sich in der Toilette ein. Nach langer Zeit kam er heraus, schwan¬
kend, setzte sich auf den Hocker und begann methodisch seine
Schuhe abzubürsten. Sie flehte ihn an zu sagen, was geschehen
war, er schüttelte den Kopf, drückte Schuhcreme aus der Tube,
verteilte sie sorgfältig auf das Oberleder, ließ keine Falte aus. Sie
krallte die Fingernägel in ihre Handflächen, um nicht zu schreien.
Später fragte sie ihn, ob er baden wolle, da lachte er zum ersten
Mal dieses fremde, unfrohe Lachen, das sie zu fürchten gelernt
hatte. Er sei ein Verräter, sagte er. Ein Helfershelfer. Sie verstand
nicht, erst am folgenden Morgen berichtete er in dürren Worten,
was geschehen war und dass er jetzt kündigen müsse. Sie hatte
ihn gebeten, es sich noch zu überlegen. Sie hätten Aufenthaltsge¬
nehmigungen, sie hätten die Wohnung, sie hätten eine Zukunft.
Sie hätten hier Fuß gefasst. Sie seien angekommen. Endlich seien
sie angekommen, nach so langer Zeit. Er solle doch jetzt nicht
alles aufs Spiel setzen.
Eva Kollisch
Meine Mutter
Aus dem Englischen von Astrid Berger
Ich sche sie mit einem grünen Tuch im Haar. Sie geht auf den
„Grünen Markt“ in Baden. Sie hat ein Damenfahrrad, vorne mit
einem Korb, und einem färbigen Netz am Hinterrad. Das Netz
verhindert, dass ihr Rock in die Speichen gerät, das Tuch, dass ihr
volles, rotbraunes Haar in ihr Gesicht fällt. Ich denke, sie muss so
um die vierzig sein, ich bin neun Jahre alt.
„Mutti, kannst du uns Milchschokolade mitbringen, ungarische
Salami, eine saure Gurke?“, rufen meine Brüder und ich. Sie gibt
vor, nichts gehört zu haben, aber die Chancen, dass sie etwas da¬
von mitbringt, stehen gut, etwas, das sich durch drei teilen lässt,
damit es unter den Kindern keinen Streit gibt. Mutti hasste es,
wenn wir stritten oder rauften. Wenn wir unser Gezänk trotz ihres
gepeinigten „Hört auf! Hört, um Himmels Willen. auf damit!“
fortsetzten, rannte sie aus dem Zimmer, presste die Hände an die
Ohren und hatte Tränen in den Augen.
Meine Mutter war offenbar eine Pazifistin. Damals bedeutete
das bloß, dass sie nervös und überempfindlich war. So betrachteten
Das sei kein Spiel, hatte er gesagt. Er könne unmöglich weiter¬
machen. Er könne sich nicht dafür bezahlen lassen, Menschen
auszuliefern.
Sie hatte ihn angeschrieen. Er werde fürs Übersetzen bezahlt.
Und er könne doch nichts dafür, was danach passiert sei. Es sei
nicht seine Schuld.
Ihr Mann hatte den Kopf geschüttelt. „Wie er mich ansah,
als sie ihn wegbrachten. Ich hatte keine Chance, ihm zu sagen,
dass sie mich genau so getäuscht hatten wie ihn, keine Chance.
Wahrscheinlich hatte er sowieso recht, mich zu verachten. Weil
ich so blöd war, ihnen zu glauben.“
Er hatte gekündigt, und seither war er arbeitslos. Anfangs hatte
er Artikel geschrieben, viel gelesen, sich um Kontakte bemüht,
intensiv Deutsch gelernt, auf alle Annoncen geantwortet. Nicht
einmal am Bau wollten sie ihn nehmen. Sie hätten nur gelacht,
wenn sie seine Hände sahen. Irgendwann war ihm die Luft aus¬
gegangen. Sie hatte es aufgegeben zu fragen, was er den ganzen
Tag gemacht hatte.
Du lachst ja auch nur mehr auf Deutsch, hatte er unlängst zu
ihr gesagt, und das war gar nicht lustig gemeint gewesen. In den
letzten Wochen konnte sie nicht einmal ihren eigenen Speichel
ohne Mühe schlucken.
Als der Bus endlich doch kam, hätte sie ihn fast versäumt, weil
sie so schwindlig war, dass es ihr schwer fiel, den Pfosten des
Wartehäuschens loszulassen.
Eine der jungen Pflegerinnen nahm sie am Arm.
Renate Welsh, geb. 1937 in Wien, studierte Englisch, Spanisch und Sprach¬
wissenschaften; seit 1969 freischaffende Schriftstellerin, verfafste sie zahlreiche
und vielfach ausgezeichnete Jugendbücher, aber auch Romane (so „Die schöne
Aussicht“, 2005). Seit 2006 ist sie Präsidentin der Interessengemeinschaft ös¬
terreichischer Autorinnen und Autoren.
wir unsere Mutti in unserer Kindheit manchmal sogar mit einer
gewissen Überheblichkeit. Hatten wir uns wieder beruhigt, tat es
uns leid, ihr nicht gehorchtzu haben, denn wir liebten sie ja auch
und wollten sie vor unseren Leidenschaften und Zornausbrüchen
bewahren.
Ich glaube, meine eigene Vorliebe für Märkte im Freien geht auf
die Fahrradausflüge mit meiner Mutter zum „Grünen Markt“ zu¬
rück. War sie großzügig gestimmt, nahm sie mich mit. Ich kann
mir vorstellen, dass ihr das Einkaufen mit mir weniger Vergnügen
bereitete, als wenn sie allein unterwegs war. Denn ich trödelte
vor den Fischbecken herum und bestand darauf, dass sie mir
sagte, welches ihr Lieblingsfisch sei, oder rief sie zum Obststand
zurück, um Anteil zu nehmen an meiner Faszination, eine haarige
Kokosnuss zu schütteln und die süße, weiße Kokosmilch darin
schwappen zu hören.
Meine Mutter hatte ihre Lieblingsstände, zu denen sie immer
wieder ging, um mit der Butter- und Eierfrau zu plaudern, die
einen gestärkten weißen Kittel trug, oder mit dem bärtigen Juden,
der bunte Garne, Nadeln und Zwirn verkaufte. Sie kannte diese
Leute beim Namen und erkundigte sich nach ihrer Gesundheit