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Joachim Stern

Die Entwicklung des Asylrechts ist kein linearer Prozess, sondern
eine vielschichtige, dynamische Entwicklung, die von einem Hin
und Her zwischen Restriktion und Anerkennung, Verrechtlichung
und gleichzeitiger Erosion gekennzeichnet ist. Man könnte mit der
Darstellung ansetzen im Jahr 1955, als Österreich die Genfer Flücht¬
lingskonvention von 1951 ratifiziert hat!, oder 1968, als das erste
Asylgesetz erlassen wurde. Meines Erachtens ist es aber notwendig,
den europäischen und historischen Kontext mit einzublenden und
etwas früher zu beginnen.

In der Zwischenkriegszeit war ein ganz wesentlicher Unterschied zu
heute, dass es keine völkerrechtliche Verpflichtung gab, Flüchtlinge
aufzunehmen. Das Asylrecht wurde mehr als Recht der Staaten,
Asyl zu gewähren, denn als Recht der schutzsuchenden Personen,
Asyl zu bekommen, verstanden. Gleichzeitig war seit dem Ersten
Weltkrieg die Kontrolle über Migrationsbewegungen wesentlich
verschärft worden. Die mit Kriegsausbruch eingeführte Passpflicht
wurde beibehalten. Die Aufsplitterung Europas in Nationalstaaten
nach vornehmlich ethnischen Kriterien ließ große Bevölkerungs¬
gruppen ohne Zugehörigkeit. Staatenlosigkeit wurde zu einem
Massenphänomen.? Gleichzeitig wurde die Nationalität zu einem
zunehmenden Ausschlusskriterium, wie etwa die Einführung des
Inlandarbeiterschutzgesetzes? 1925, mit dem der Arbeitsmarkt
erstmals auf ÖsterreicherInnen beschränkt wurde, illustriert.

Ab den frühen 1920er Jahren gab es den Versuch, aufinternatio¬
naler Ebene für bestimmte Gruppen von verfolgten Personen, wie
russische, armenische, dann assyrische und türkische Flüchtlinge,
vor allem im Rahmen des Völkerbunds rechtliche Lösungen zu
finden. Den entsprechenden Verträgen schloss sich stets nur eine
kleine Zahl von Staaten an und auch ihre Umsetzung blieb weit¬
gehend aus. Das Scheitern der europäischen Flüchdingspolitik vor
dem heraufziehenden Zweiten Weltkrieg und vor allem der Shoah
manifestiert sich allerdings am deutlichsten an der Konferenz von
Evian, die sich 1938 — fünf nach zwölf — vor allem dem Schicksal
der Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich widmen sollte.
Die Zugeständnisse, zu denen die Staaten bereit waren, waren
nicht nur unzureichend, sondern kamen auch zu spät: „Der Krieg
verhinderte [...] die Durchführung eines Hilfsprogramms, das die
meisten europäischen Länder sowieso ablehnten.“* Die Tragödie
nahm ihren Lauf.

Die Zeit des Nationalsozialismus soll nicht ausgeblendet wer¬
den, vor allem auch nicht, weil der Kontext von Vertreibung und
Verfolgung für die Entstehungsgeschichte des heutigen Asylrechts
von herausragender Bedeutung ist. Nach dem Holocaust und den
Vertreibungen im Zuge und auch nach dem Zweiten Weltkrieg
konnte die Lage der Flüchtlinge auf internationaler Ebene nicht
mehr zur Seite geschoben werden. Nach zähem Ringen? wurde
schließlich 1951 in Genf die „Konvention über die Rechtsstellung
der Flüchtlinge“ (Genfer Flüchtlingskonvention — GFK) beschlos¬
sen, die in vieler Hinsicht ein Kompromiss war, aber gleichzeitig
ein Fortschritt zu einer verbindlichen Regelung, die auch heute
noch den Kern des Flüchtlingsrechts darstellt und von mehr als 140
Staaten ratifiziert wurde.

Als Flüchtling ist der Konvention nach vor allem anzuschen,

... wer sich infolge von vor dem 1. Jänner 1951 eingetretenen Ereig¬

nissen aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion,

Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, auferhalb seines
Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf
diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedie¬
nen, oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb
des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der
Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land
zurückzukehren. (Art 1 Abschnitt AZ 2 GFK)°

Der historische Kontext wird nicht nur in dieser Definition und
in der zeitlichen Beschränkung auf Ereignisse vor 1951, sondern
auch im Hinblick auf die Möglichkeit der Beschränkung auf solche
„Ereignisse“, die in Europa eingetreten sind (vgl Art 1 Abschnitt
B GFK), deutlich. Erst mit dem New Yorker Protokoll von 1967
wurden die regionalen und zeitlichen Ausschlüsse beseitigt und erst
seitdem kann von einer „Magna Charta des Fliichtlingsrechts“ gespro¬
chen werden. Mit der Anerkennung als Flüchtling ist zugleich eine
Rechtsstellung verbunden, die in vieler Hinsicht, wie Berufszugang
und Ausbildung, jener von Staatsangehörigen oder zumindest jener
der am meisten begünstigten AusländerInnen entsprechen sollte und
auch einen Anspruch auf Identitätspapiere beinhaltet.

Die Darstellung der Bedeutung dieses Rechts in Österreich erfordert
jedoch zunächst einen zeitlichen Sprung: Im August 1938 wurde die
NS-Ausländerpolizeiverordnung in Österreich kundgemacht.” Der
Aufenthalt wurde „Ausländern erlaubt, die nach ihrer Persönlichkeit
und dem Zweck ihres Aufenthalts im Reichsgebiet die Gewähr
dafür bieten, dass sie der ihnen gewährten Gastfreundschaft wür¬
dig sind“ ($1). Ein Katalog legte fest, wann diese Voraussetzungen
„insbesondere“ nicht erfüllt sind und ein Aufenthaltsverbot erlassen
werden kann. Die Verordnung wurde damals von NS-Juristen als
» Weiterentwicklung zu dem Gedanken“ bezeichnet, „nach dem den
Belangen der Allgemeinheit und den Erfordernissen der Staatssicherheit
andere Rücksichten in jedem Fall unterzuordnen sind. In Abkehr
von dem im bisherigen Ausländerpolizeirecht beachteten Prinzip
der Einzeltatbestände wird daher den Ausländerpolizeibehörden
ein umfassender Ermessensbereich eingeräumt.“® Mit Kriegsbeginn
wurde die Verordnung weiter verschärft: „Angehörige der Feind¬
staaten“ durften ihren Aufenthaltsort nur mehr mit Genehmigung
verlassen, zudem konnten sie jederzeit weiteren Beschränkungen
der persönlichen Freiheit unterworfen und in Internierungslagern
angehalten werden. Sonstige Ausländer bedurften nun prinzipiell einer
besonderen Aufenthaltserlaubnis; ein Aufenthaltsverbot konnte ganz
allgemein verfügt werden, „wenn öffentliche Belange es erfordern“.

Obgleich grundsätzlich nach der Befreiung 1945, der vorherr¬
schenden Okkupationstheorie zufolge die chemalige österreichische
Rechtsordnung wieder aufleben hätte müssen, beschloss das „erste
Opfer des Nationalsozialismus“ eine grundlegende Überleitung
sämtlicher deutscher Vorschriften in die Rechtsordnung der Zwei¬
ten Republik. Auf die rasche Aufhebung ausgewählter Normen,
wie der Nürnberger Gesetze, die als typisch nationalsozialistisches
Gedankengut enthaltend bezeichnet wurden, folgte ein Erstarren
der Entnazifizierung auch im Gesetzesbereich.'° Die Ausländerpo¬
lizeiverordnung blieb in Kraft — und zwar in der Kriegsfassung, In
einem einzigen Punkt sah die Republik Änderungsbedarf: Durch
Gesetz wurde 1951 die Möglichkeit für eine Ausnahme geschaffen,
„wenn dies zur Durchführung zwischenstaatlicher Vereinbarungen

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