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Losgelöstheit und Entfremdung von anderen:

* Frau S. schildert, sie fühle sich oft so, als wäre sie völlig alleine auf
der Welt. Obwohl die Familie immer in der Nähe sei, fühle es sich
trotzdem so an, als wäre niemand da.

« Herr E berichtet, er sei früher vielseitig interessiert gewesen. Er habe
schöne Vorstellungen von der Welt und auch sehr hohe Erwartun¬
gen an die Demokratie in Europa gehabt und gedacht, dass alle
Menschen Brüder wären. Jetzt habe sich das alles verändert, er sehe
die Menschen wie Wölfe an und könne sich für gar nichts mehr
interessieren.

Konzentrationsschwierigkeiten:

© Frau N. beschreibt Schwierigkeiten beim Deutschlernen. Sie habe
in der Schule viele Gedichte auswendig gelernt. Aber jetzt könne sie
sich gar nicht mehr konzentrieren, sich an die Gedichte nicht mehr
erinnern und auch keine neuen Gedichte lernen. Jetzt sei ihr Kopf
so voll mit dem Krieg.

Schuldgefühle:

© Frau X. erzählt, sie könne es schwer erklären, aber irgendwie fühle
sie sich seit der Folter immer schuldig. So, als habe sie selbst etwas
Schlechtes gemacht.

Somatisierung:

* Frau D. gibt an, sie habe überall Schmerzen. Sie leide an Kreuz¬
schmerzen, Schmerzen in den Gliedmafsen und an Kopfschmerzen.
Es fühle sich an, als trüge sie eine schwere Last auf den Schultern
und sie habe oft nicht die Kraft, ihr eigenes Kind zu heben.

Übermäßige Wachsamkeit:

© Frau B. beschreibt, sie fühle sich ständig angespannt und nervös, so
als wäre die Flucht noch nicht vorbei.

« Herr G. schildert, er fühle sich immer angespannt und sei in ständiger
Erwartung, dass wieder etwas Schreckliches passieren würde.

Opfer von Folter und Verfolgung sind Männer, Frauen und oft
auch Kinder. Es gibt unzählige Methoden, anderen Menschen
Qualen anzutun, Folter, die später im Körper des Opfers Narben
hinterlässt, Methoden ohne sichtbare Narben, auch psychische
Folter, wie Zuschauenmüssen bei der Folter von anderen Menschen,
oder Scheinhinrichtungen.

Die Frage, ob es geschlechtsspezifische Unterschiede gibt, muss
mit „ja“ beantwortet werden. Frauen und Männer werden in
gleicher Weise bedroht, geschlagen, verletzt, misshandelt, gefoltert
und ermordet. Der wesentliche Unterschied besteht in der Häu¬
figkeit sexualisierter Gewalt. Sexuelle und sexualisierte Gewalt
an Frauen ist so alt wie Kriege. Der Kulturwissenschaftler Hans
Peter Duerr hat sich in dem fünfbändigen Werk Der Mythos vom
Zivilisationsprozess (Suhrkamp, ab 1988) ausführlich mit dem
Thema beschäftigt. Es gibt auch sexuelle Übergriffe auf Männer,
aber doch viel seltener.

Frau A. erzählt, sie seien alle im Keller gewesen wegen der Bom¬
benangriffe. Sie und ihre Familie, die Eltern des Mannes und noch
zwei Brüder. Mehrere bewaffnete Milizsoldaten seien in den Keller
gestürmt, hätten den Mann festgenommen, geschlagen und nach
dem Versteck des älteren Bruders gefragt. Er habe nichts gesagt. Dann
hätten sie sie an den Haaren gezerri, geschlagen, zu Boden geworfen,
ihre Kleider zerrissen. Sie seien, einer nach dem anderen, über sie
hergefallen. Irgendwann habe sie das Bewusstsein verloren. Niemand
habe ihr helfen können. Die Soldaten hätten jeden bedroht, der sich
auch nur bewegt habe.

Eine Geschichte von vielen aus den unterschiedlichsten Ländern.

Meistens fängt nach einer Vergewaltigung ein unbeschreiblicher
Leidensweg an. Die Frauen sind „entehrt“, werden vor allem in

den muslimischen Gesellschaften von ihren Männern verstoßen,
die Kinder werden ihnen abgenommen. Und die Männer der
Herkunftsfamilie müssen die Ordnung wieder herstellen, die
entehrte Frau muss getötet werden. Geschicht das nicht, dann
verstecken sich diese Frauen für den Rest ihres Lebens, verlassen
das Haus nicht mehr. Ihr Leben ist zerstört. Sehr oft sind es dann
die Mütter, die ihren Töchtern die Flucht ermöglichen.

Manchmal zeigen sich die Ehemänner zuerst einmal verständ¬
nisvoll. Sie flüchten gemeinsam. Aber nur allzu oft zerbricht die
Familie dann später: Der Mann sucht eine neue Frau, will die
„Entehrte“ loswerden, verhält sich brutal und zwingt sie, ihn zu
verlassen oder verstößt sie. In Österreich wird gewalttätigen Män¬
nern der Kontakt zu den Kindern verboten. Aber das heißt noch
lange nicht, dass dann die Alleinerzieherin mit ihren Kindern in
Frieden leben kann. Die Bedrohung durch den Mann oder die
Sippe bleibt.

Viele Männer wissen nichts von der Vergewaltigung ihrer Frauen,
sie waren im Gefängnis, im Krieg, in den Bergen. Sie verstehen das
veränderte, oft verstörte Verhalten ihrer Frauen nicht, schöpfen viel¬
leicht Verdacht, sprechen mit den Frauen nicht darüber. Frauen auf
der Flucht, wenn sie ohne männlichen Schutz sind, werden sehr oft
als „Freiwild“ betrachtet. Uns sind Fälle von sexuellen Übergriffen
in osteuropäischen Flüchtlingslagern wiederholt berichtet worden.

Die Probleme im Asylverfahren

Da ich keine Juristin bin, möchte ich mich auf die psychologisch
relevanten Bereiche beschränken.

Da ist zuerst einmal die Dauer des Asylverfahrens: Asylwerberin¬
nen müssen oft viele Jahre lang in Ungewissheit und Unsicherheit
leben, sie dürfen nicht arbeiten, es fehlt an finanziellen Mitteln
für ein normales Leben, die Zuwendungen - nicht einmal die
Hälfte der Sozialhilfe bzw. Grundsicherung — reichen nicht
für ein vernünftiges Leben. Die Teilhabe am sozialen Leben
in unserer Gesellschaft ist so gut wie unmöglich. Und danach
werden sie mit dem Vorwurf mangelnder Integrationsbereitschaft
konfrontiert.

Die Befragungen im Asylverfahren finden meist nicht in einer
Atmosphäre des Vertrauens statt. Schwer traumatisierte Men¬
schen vermeiden es, von Erniedrigungen und erlittener Gewalt
zu sprechen. Deshalb bleiben sie bei der ersten Einvernahme sehr
allgemein und erzählen nicht, was ihnen tatsächlich widerfahren
ist. Sie fühlen sich erniedrigt, indem sie über ihr Ausgeliefertsein
berichten. Oft kommen sie auch mit dem Erinnerungsvermögen
nicht zurecht, erinnern sich nicht mehr an den zeitlichen Ablauf
der Ereignisse. Das kann zu Widersprüchen in den Aussagen
bei späteren Einvernahmen führen. Viele müssen vier Mal und
öfter ihre Aussagen wiederholen, manchmal liegen einige Jahre
dazwischen. Wenn die Asylwerber bei späteren Befragungen —
unterstützt durch ihre Psychotherapeutin oder Rechtsberaterin
— über ihre Gewalterfahrungen erzählen, glaubt man ihnen nur
allzu oft nicht. Sie würden das nur anführen, weil sie sich damit
bessere Chancen ausrechnen, meinen die zuständigen Beamten.
Als Lügner bezichtigt zu werden ist für Asylwerber sehr verletzend
und kann schlimme psychische Folgen haben. Die Befragungen
sind so belastend, dass die abschließende Verlesung des Protokolls
durch den Dolmetscher und die Unterzeichnung der Richtigkeit
durch den Asylwerber oft zur Farce geraten. Nach der Befragung
können sie nicht mehr die Aufmerksamkeit dafür aufbringen, was
fatale Folgen haben kann.

Mai2012 45