spiegeln also den Moment des Erzählens wider und manche meinen,
das Gegenwärtige bilde sich darin stärker ab als das Vergangene selbst.
Die Folge dieser Erkenntnis war eine Fülle von Literatur und
praktischen Anleitungen, wie an Oral History-Interviews heranzu¬
gehen sei, wie sich die Beeinflussung durch Interviewer möglichst
reduzieren ließe — und vor allem, worauf bei der Interpretation
von lebensgeschichtlichen Erzählungen zu achten und wo und
auf welche Weise die Quellenkritik anzusetzen sei.‘
Denn: verzichten wollte kaum jemand auf die Quelle „Oral
History“, bietet sie doch bei allen Mängeln Möglichkeiten zu
einer Innensicht, die andere - traditionelle - historische Quellen
und Dokumente meist nicht zulassen.
Auch ich selber habe für mein Buch ,, Dienstmadchen-Emigration®
auf „Oral History“ zurückgegriffen, war es doch eine der letzten
Möglichkeiten, Betroffene und ZeitzeugInnen selbst zu Wort
kommen zu lassen. Jene jüdischen Frauen, die die Chance, als
Dienstmädchen nach England zu gehen, nach dem „Anschluss“
1938 zur Flucht aus dem Machtbereich der Nationalsozialisten
nutzten, sind inzwischen um die neunzig Jahre alt.
Ehe von den Erinnerungen dieser Frauen und davon, was ver¬
sucht wurde, aus diesen Reflexionen herauszulesen, berichtet
wird, soll kurz auf den Inhalt des Buches eingegangen werden.
Es geht darin um die Flucht jüdischer Frauen in den Jahren
1938/39 vor der Verfolgung durch das Nazi-Regime nach England.
Rund 20.000 Frauen konnten auf diese Weise mit Hilfe des so
genannten ,,domestic permit“ — einer Beschaftigungsbewilligung,
die britischen ArbeitgeberInnen die Einstellung einer ausländi¬
schen Arbeitskraft erlaubte - entkommen.
Das Buch beschreibt auch die Umstände, die diese breite Flucht¬
bewegung begünstigt, ja vermutlich überhaupt erst ermöglicht
hatten, nämlich eine Arbeitsmigration — vor allem aus Öster¬
reich — in den 1920er- und 30er Jahren. Sie wurde durch einen
akuten Mangel an Hauspersonal in Großbritannien nach dem
Ersten Weltkrieg und einen gleichzeitigen Stellenmangel auf eben
diesem Sektor in Österreich ausgelöst und durch die Haltung der
österreichischen Behörden, die darin einen Lösungsansatz für die
Probleme der Arbeitslosigkeit sahen, gefördert. Diese Arbeitsmi¬
gration bildete die Grundlage für die spätere Fluchtbewegung. Bis
nach Kriegsbeginn war es den Flüchtlingsfrauen übrigens verbo¬
ten, in England eine andere bezahlte Arbeit als jene in privaten
Haushalten, in denen sie auch wohnen mussten, anzunehmen.
Zu meinen insgesamt 17 Interviewpartnerinnen — 12 davon
als selbst Betroffene und fünf Töchter von „refugee domestic
servants“ — bin ich zum Teil durch Mundpropaganda gekommen:
Freunde erzählten von Verwandten und Bekannten, die in England
in der „Emigration“ gewesen waren und dort als Köchin oder
Stubenmädchen gearbeitet hatten. Der größte Teil wurde über
eine Suchnotiz im englischen „AJR-Journal“° gefunden; das ist die
noch immer monatlich erscheinende Zeitschrift der „Association
of Jewish Refugees“, einer im Juli 1941 in Großbritannien gegrün¬
deten, landesweiten Selbsthilfeorganisation jüdischer Flüchtlinge
aus Nazi-Deutschland.’”
Was haben nun diese InterviewpartnerInnen für wichtig genug
erachtet, um in den Rechenschaftsbericht°, den lebensgeschicht¬
liche Erzählungen vor allem in fortgeschrittenem Alter immer
auch darstellen, aufgenommen zu werden?
Besonders ausführlich beschrieben die meisten die Gefühle des
Fremdseins und der Isolation angesichts des so anderen „British
Way of Life“, den sie aus der Küchenperspektive kennen lernen
mussten. Ob sie aber die Anfangsschwierigkeiten, etwa mit der
britischen Form der Teezubereitung, anekdotisch beschrieben
oder aus den vielen ungewohnten Eindrücken nach ihrer An¬
kunft im Zufluchtsland in ihrer Erzählung den Beginn einer
„Iragödie“ machten, hängt von vielen Umständen ab, auf die
später noch näher eingegangen werden soll. Hier nur so viel:
die Diskrepanz zwischen Herkunft und Bildung einerseits und
dem neuen — niedrigeren — sozialen Status als Hausangestellte
andererseits war für „höhere Töchter“ — junge Frauen aus dem
assimilierten jüdischen Bürgertum also — ein großes Problem.
Häufig wurde - explizit und implizit — der soziale Abstieg beklagt.
Im allgemeinen neigten Bürgertöchter eher dazu, die Behandlung
durch ihre Dienstgeberinnen als „schlecht“ und „entwürdigend“
anzuschen als Flüchtlingsfrauen aus dem Arbeitermilieu, obwohl
auch diese an der Behandlung durch die „mistresses“ — die eng¬
lischen „Gnädigen“ — manches auszusetzen hatten. Dazu die
Wienerin Johanna (Hansi) Tausig im Interview:
Im Vorzimmer stand ein Tischerl mit einem Telefon und davor
also so ein kleiner Sessel zum Telefonieren. Und da war ein Polster
drauf, der war auf einer Seite rot und auf der anderen grün, glaub‘
ich, es waren jedenfalls zwei [unterschiedliche] Seiten. Und sie wollte
haben, dass der Polster auf der roten oder auf der grünen Seite liegt,
das kann ich mich erinnern. Und es war verdammt nicht in meinen
Kopf zu kriegen. Was hat s’gsagt? Soll i den so oder so herlegen? Und
ich hab“ halt einige Male den Polster verkehrt hingelegt. Und einmal
hat sie die totale Wut gepackt und sie hat den Polster hochgehoben
und hat gesagt: „Jetzt ist er schon wieder auf der falschen Seite!“ Und
hat ihn geschwungen und hat oben eine Lampe zsamm g’haut! [...]
Und ich hab‘ das überhaupt nicht begriffen, wieso in der Situation,
in der man lebt, ganz Europa war in Gefahr, das für einen Menschen
wichtig sein kann, ob der blöde Polster grün oder blau ist?
Häufig wurde in den Interviews das Thema „Kleidung“ als Indi¬
kator für das Problem des sozialen Abstiegs erwähnt. Ilse Gokal,
Tochter eines Rechtsanwaltes aus Breslau, berichtet, eine Dienst¬
geberin habe ihr angesichts ihrer zahlreichen Gepäckstücke, die
eine ganze Ausstattung samt Pelzmäntel enthielten, jede Eignung
zur Hausgehilfin, aber auch jeden Fleiß abgesprochen — und sie
entsprechend schlecht behandelt. '”
Auch in der von ihrer Großcousine Barbara Esser verfassten
Lebensgeschichte von Ilse Tysh, einer Fabrikantentochter aus
Türmitz bei Aussig im Sudetenland, ist diesem Thema eine Aus¬
sage gewidmet:
Manchmal konnte ich mich ... darüber amüsieren, dass in mei¬
nem Schrank edlere Kleidung hing, als meine Chefin sie trug. Viele
Jüdinnen vom Festland waren in ihrer Freizeit besser angezogen als
ihre Dienstherrinnen."'
Berichtet wird auch, dass manche Dienstgeberinnen in Herkunft
und Bildungsstand ihrer neuen Hausangestellten eine Erhöhung
des eigenen Prestiges sahen. Ilse Tysh verwies darauf, dass ihre —
im übrigen sehr wohlwollende - mistress Gästen gegenüber nicht
nur die Kochkünste ihrer Angestellten rühmte, sondern auch
deren Bildungsniveau — Matura und Fremdsprachenkenntnis¬
se.!? Stella Klein-Léw, Lateinlehrerin und nach ihre Rückkehr
aus dem Exil sozialdemokratische Nationalratsabgeordnete und
Bildungssprecherin der SPÖ in der Zweiten Republik, bemerkt
in ihren schriftlichen Erinnerungen Ähnliches:
Frau Y. war sehr stolz, eine PH.D. (Dr.phil.) als Hausgehilfin zu
haben. Sie stellte mich allen ihren Besuchern vor, sie servierte mich