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Hansi im Falle ihrer Cousine Grete selbst beitragen konnte. Sie fand für sie einen Stelle als „mother‘s help“ in der unmittelbaren Nachbarschaft ihrer Dienstgeber.” Allerdings gingen die meisten Mitglieder ihrer Familie in die USA.” Die Sicht von Hansi Tausig auf ihre Zeit in England ist aber auch davon bestimmt, dass sie bereits im Frühjahr 1939 Kontakt zum eben gegründeten Austrian Centre aufnehmen konnte” und dort einen Freundeskreis fand, der nach der Rückkehr nach Österreich weiter bestand und zum Zeitpunkt des Interviews auch noch regelmäßig zusammenkam.”® An diesen drei Fällen zeigt sich die Bedeutung des Schicksals der Eltern und anderer naher Angehöriger auf die rückschauende Beurteilung der Emigrationszeit in der Lebenserzählung deutlich. Konnten Eltern und nahe Angehörige ebenfalls vor den Nationalsozialisten flichen, scheint dies die gesamte Erinnerung positiv zu beeinflussen, vor allem dann, wenn es noch in der Kriegzeit oder in den Jahren danach zur Wiedervereinigung der Familie kam. Die Erzählungen zeigen aber auch, dass eine insgesamt positiv bewertete Lebensbilanz auch die Jahre des Exils in einem günstigeren Licht erscheinen lässt. In „Gerdas“ Lebenserzählung dagegen - es ist das einzige Interview mit eindeutig negativem Tenor - fehlen alle diese positiven Motive.” Die aus wohlhabendem bürgerlichen Milieu einer deutschen Kleinstadt stammende junge Frau schilderte die Hausgehilfinnentatigkeit in England als entwiirdigend. Ihre Eltern haben nicht überlebt, sie wurden — vermutlich nach Riga — deportiert und von den Nationalsozialisten ermordet. ,,Gerda“ erfuhr davon im Frithjahr 1942 in einem — verschliisselten — Rot-Kreuz-Briefder Nachbarin.” Eine eigene Familiengründung hat für sie niemals in der gewünschten Form stattgefunden, ebenso wenig wie eine der bürgerlichen Herkunft entsprechende berufliche Karriere. „Gerda“ — sie blieb auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin anonym — war zum Zeitpunkt des Interviews 86 Jahre alt und schwer krank. Sie erinnerte in ihrer Lebenserzählung vor allem den sozialen Abstieg, den die Flucht nach England für sie nach sich gezogen hatte und den sie ihr Leben lang nicht wettmachen konnte. Ihre künstlerischen Versuche blieben in den Anfängen stecken.?! Uneheliche Mutterschaft und ihre Bemühungen, dem Sohn eine gute Ausbildung angedeihen zu lassen?”, machten es ihr auch in der Nachkriegszeit unmöglich, eine berufliche Karriere anzustreben. Sie musste im Bereich des „domestic service“ bleiben, war aber — um ihrem Kind nahe zu sein - immer wieder zum Jobwechsel gezwungen.” Später machte eine Migräne, die aus heiterem Himmel auftrat, sie immer wieder unerwartet arbeitsunfähig und verhinderte so einen beruflichen Aufstieg.” Der unter so schwierigen Bedingungen großgezogene Sohn verließ als Erwachsener Großbritannien und lebt heute als Wissenschafter in den USA. Trotz dieser negativen Grundstimmung hatte das Erzählen ihrer Lebensgeschichte wohl auch für „Gerda“ eine wichüge Funktion. Reinhard Sieder beschreibt an Hand von Fallstudien die Wirkung lebensgeschichtlicher Erzählungen für schr alte Menschen so: Die älteren und alten Erzählerlinnen können (in gewissem Rahmen) die Erzählung ihrer schwer tragbaren Geschichten reformulieren. [...] Um etwa ... eine Hoffnung ... in die ferne Zukunft verschieben zu können [...], bedarf es einer solchen fernen Zukunft. Steht der Erzähler jedoch schon am Ende seines Lebens, wird er seine Energien eher auf lebensgeschichtliche Konstruktionen konzentrieren, mit denen er leben und sterben kann und die ihm retrospektiv Sinn stiften. Dieser Möglichkeit verdankt sich offenbar das besondere Interesse alter Menschen an Rückschau und Lebensbilanz.?? „Gerda“ hatte die Ehefrau ihres Rabbiners als Zuhörerin eingeladen und sich damit eine Möglichkeit eröffnet, die eigene Version ihrer Lebensgeschichte auch ihrem Umfeld weiterzugeben. Ihre Erzählung enthält wiederholt Rechtfertigungen — „ich war jung und dumm“ - für das Nicht-Gelingen des ursprünglichen Lebensplanes, wofür implizit die Emigration und ihre Folgen verantwortlich gemacht werden. Auch das für ihr Leben bestimmende Liebesabenteuer mit einem wesentlich älteren Mann, von dem sie erst ein Jahr nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes erfuhr, dass er bereits verheiratet war”, führte „Gerda“ auf diese persönliche Unreife und auf die Entwurzelung durch die Vertreibung aus ihrer Heimat zurück. Die Erzählung ihrer Lebensgeschichte diente in hohem Maße der persönlichen Entschuldung. Für die Erzählerin hat sie damit ihre sinnstiftende Funktion wohl erfüllt. „Gerda“ starb im Herbst des Jahres 2007 in England. Diese Beispiele sollen demonstrieren, wie der Verlauf des weiteren Lebens, aber auch die Lebensumstände zum Zeitpunkt der Erzählung beeinflussen, was und in welcher Weise von Flucht und Exil erinnert und erzählt wird. Zum Schluss soll noch erwähnt werden, welche Erkenntnisse ich selbst in den Gesprächen mit den ehemaligen Flüchtlingsfrauen darüber hinaus erlangte. Je mehr ich mich mit ihren Spuren befasste, je näher ich ihnen kam, umso deutlicher wurde mir, wie tapfer und stark die meisten dieser Flüchtlingsfrauen gewesen sind. Sie hatten nicht nur den Heimatverlust zu verkraften und mit der Einsamkeit und der strengen Hierarchie in britischen Haushalten zurecht zu kommen, sie mussten sich in einer fremden Kultur zurechtfinden, die sie aus der Perspektive unterprivilegierter Arbeit kennen lernten. Das bedeutete häufig, ausgebeutet zu werden, das bedeutete für manche einen kaum erträglichen sozialen Abstieg. Dennoch versuchten viele dieser Frauen und Mädchen alles, um Angehörige — die Eltern etwa — nach England zu holen. Manche von ihnen brachten Kinder — oder auch einen Ehemann, der als Flüchtling in Großbritannien offiziell keiner bezahlten Arbeit nachgehen durfte — mit ihrem kargen DienstmädchenEinkommen irgendwie durch diese schwere Zeit. Auch mit Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, sogar Spionageverdacht waren sie konfrontiert — und häufig auch mit durchaus wohlmeinenden Dienstgeberinnen, die aber wenig oder kein Verständnis für die Nöte ihrer ausländischen Haushaltshilfen hatten. Die Fluchtbewegung jüdischer Frauen mit Hilfe des „domestic permit“ wurde in der einschlägigen Forschungsliteratur bisher zwar immer wieder erwähnt, allerdings meist als bloße Randerscheinung. Das Buch sollte diesen starken und tapferen Frauen jenen Platz im kollektiven Gedächtnis zu sichern, der ihnen nach meiner Meinung zusteht. Traude Bollauf, Journalistin und Zeithistorikerin, langjährige Redakteurin beim ORF; Autorin des Buchs Dienstmädchen-Emigration (Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch 2010). Anmerkungen 1 Michael Köhlmeier: Abendland. München 2007, 223. 2 Gerhard Botz: Überleben im Holocaust. In: Ders. (Hg.): Margareta Glas-Larsson, Ich will reden. Tragik und Banalität des Überlebens in Theresienstadt und Auschwitz. Wien, München, Zürich 1981, 61. 3 Eleonore Lappin, Albert Lichtblau (Hg.): Die „Wahrheit“ der Erinnerung. Jüdische Lebensgeschichten. Innsbruck, Wien, Bozen 2008, 7. Mai2012 49