Mit den Mitteln der Fotokamera aufklären und
anklagen? Stellung beziehen in Zeiten der Armut,
der Arbeitslosigkeit, der Obdachlosigkeit? Sie als
„Dynamit und Sprengpatronen im Kampf der
Seelen“ einsetzen, wie Kurt Tucholsky es in der
„Weltbühne“ propagierte, ihre dokumentarische
Kraft sprechen lassen?
Diesen Anforderungen wird Eva Besnyö (1910
2003) mit ihren Aufnahmen des am Rande von
Budapest gelegenen Elendsviertels Kiserdö aus
dem Jahr 1933 gerecht. Auch Fotografien wie
„Ein Arbeitsloser im Jordaan“, „Vor der Börse“,
„Amsterdam 1932“ und „Pfandhaus M. Cosman“
sind einer sozialkritischen Bildsprache verpflichtet,
aber eher poetisch denn kampferisch. Ist Fotografie
sozialkritische Dokumentation oder Kunst? Im
Idealfall beides.
Am Anfang ihrer Laufbahn als Fotografin, so
Eva Besnyö in einem Interview, war ihr die Form
wichtiger als das Thema. Aufgewachsen in einer
bürgerlich-jüdischenFamiliein Budapest, verlässtsie
geradezwanzigjährigmiteinerGesellenprüfungdes
angesehenen BudapesterPorträt-und Werbeateliers
JöszefPesciim Gepäckihre unterderHertschaftdes
konterrevolutionären „Reichsverwesers“ Horthy
stehende Heimat. Für freigeistiges Denken und
künstlerische Experimente war kein Platz mehr:
„Kunst und Photographie sollten jetzt den mag¬
yarischen Nationalismus huldigen.“ Die, die sich
weigern, ihreArbeitdazu degradierenzulassen, sind
zur Emigration gezwungen. Wie ihre ungarischen
Kollegen Moholy-Nagy, Kepes und Capa wahlt
sie Berlin, die Metropole des Umbruchs und der
Experimentierfreude, zu ihrem neuen Domizil
und nicht Paris, das die romantische, altmodische
Richtung symbolisiert.
»ich kam nach Berlin und da ging das Licht an.“
Hier entdeckt Besnyö die Filme der russischen
Avantgarde, erlebt das revolutionäre Theater eines
Erwin Piscator und besucht die Marxistische
Eva Besnyö, Selbstportrait, Berlin 1931
Aber sie waren immer dem formalen Prinzip
untergeordnet und hatten keine Bedeutung als
Individuen.“ Klare Linien, feine Strukturen, unge¬
wöhnliche Blickpunkte, steile Aufsichten, reichste
StufungenderLichtführungunddergrauen Werte,
kühne Diagonalen werden zum Ausdruck eines
neuen Lebensgefühls und eines neuen Sehens. „In
Ungarn lag die Diagonalein der Luft, in Berlinging
sie durch mich hindurch.“
Völlig unbekannte, geheimnisvolle Tore öffnen
sichundverlangen vom Betrachterder Fotoseineak¬
tive Wahrnehmungshaltung, dasichdie Wirklichkeit
im Abbild nicht mehr unmittelbar erschließt. Das
Credo des Neuen Sehens lautet, „dem Bekannten
neuartige Ansichten abzugewinnen“.
Eva Besnyö spielt mit ungewöhnlichen Pers¬
pektiven, spielt mit der irritierenden Wirkung des
Schattens wie beim Eisengitter auf der Mauer oder
einem sommerlichen Kiesbett. Fast menschenleere
Straßen bannt sie in surrealer Wirkung ins Bild, so
bei der Starnberger Straße, oder zeigt Menschen in
Rückenansichten wie den Koksarbeiter oder die
zwei Mädchen, die sich Schutz suchend umfassen.
Sie präsentiert eine fast kubistisch anmutende
Stadtauffassung wie beim „Deutschen Stadion“ im
GrunewaldoderzeigtFlächenundLiniengleichden
Konstruktivisten,den Zeitgenossen modernerInge¬
nieure, wie bei der Gleisanlage oder dem Bahnhof.
Beeindruckende Ergebnisse ihrer Berliner Zeit, die
zwei Jahre währte. Früh erkennt sie die Gewalt der
nationalsozialistischen Ideologie, den Rassenwahn
der Nazis: „Aufder Straße waren all die Braunhem¬
den mit Knüppeln ... Es gab Zusammenstöße in
linken Cafes, wo sie Menschen und das ganze Café
kurz und klein schlugen. Es war eine gewalttätige
Atmosphäre.“ Auch der Hinweisihrer Agentur, „sie
könne ihreBildernurnochohneNamensnennung
vertreiben, weilihrNamefürjüdischgehaltenwerde“,
bestärkt Eva Besnyö in ihrem Entschluss, Berlin
Richtung Amsterdam zu verlassen.
In Amsterdam erfährt sie öffentliches Ansehen
überihreersteEinzelausstellung1934,gehörtvonda
an zur tonangebenden Fotografenszene des Landes
und zum Freundeskreis um die angesehene expres¬
sionistische Malerin und Widerstandskämpferin
Charley Toorop. Kiinstlerisch an der Moderne ori¬
entiert, politischsichimlinken Spektrum bewegend.
Inderzweiten HälftederdreißigerJahrewirdBesnyö
Mitglied des Bundes der Künsder zur Verteidigung
der Kulturellen Rechte, nimmt teil an der durch
diesen Bundorganisierten Ausstellung, Olympiade
unter der Diktatur“ und übernimmteine führende
Rollebeider Organisation derinternationalen Aus¬
stellung,,Foto, 37“. Alsdie Nazis das Land besetzen,
unterstützt Eva Besnyö den Widerstand und sorgt
u.a. für die Herstellung illegaler Dokumente. Von
Verfolgung bedroht, gelingt es ihr mittels eines
fingierten Ahnennachweeises, sich als „Halbjüdin“
„entjuden“ zulassen.
Mit Auftragsarbeiten wieArchitekturfotografien
erntet sie großen Erfolg: „Ich habe es gerne getan,
aber es war schwer und ich musste die Architektur
immer ohne Menschen aufnehmen“.
NachderBombardierungRotterdamsdurch die
deutsche WehrmachtistEvaBesnyömitihrerKamera
unterwegs und überwältigt von der ästhetischen
Wirkung der Trümmerszenarien. Dutzende von
Aufnahmen vermitteln eine Bildästhetik, die vom
Leidder BetroffenenabstrahiertundohneMenschen
auskommt. Riickblickend distanziert sie sich von
diesem Ruinen-Zyklusundsprichtvom,, Todesstofs
ihrer ästhetischen Fotografie“.
In den 1970er Jahren wird sie zur Aktivistin der
niederländischen Frauenbewegung „Dolle Mina“
und dokumentiert mitihrer Leica die Aktionen der
Bewegung, ,,dawar ... das Thema viel wichtigerals
die Form“, HundertevonAufnahmenentstehen, die
ihr untrügliches Gespür für Alltagssituationen und
räumlich-atmosphärischeSpannungenzeigen. Von
der Zeitschrift Opzijerhältsie den Annie-Romein¬
Preis für „ihren besonderen Beitragzur Geschichts¬
schreibungder ... feministischen Bewegung... die
durch Worte nicht so hätte wiedergegeben werden
können.“ Und 89jährig den Dr. Erich-Salomon¬
Preis der Deutschen Gesellschaft für Photographie
für humanistischen Fotojournalismus.
Im Alter von 93 Jahren stirbt Eva Besnyö nach
kurzer Krankheit in Laren.
Am Beispiel Eva Besnyö findet Bestätigung, was
durch die Forschung belegt ist:,,... dass Frauen der
um 1900geborenen Generationin Europa—beson¬
dershäufigausassimilierten jüdischen Familien-den
Mutgefassthaben, zum Fotoapparatzu greifen, sich
aufdieStrafsezubegebenoderauchin anderen Berei¬
chen mitder Kameraam gesellschaftlich-offentlichen
Leben teilzunehmen.“
Es ist das Verdienst des Verborgenen Museums
undderKuratorinnen Marion Beckersund Elisabeth
Moortgat, dassin Berlinca. 120 Vintage-Fotografien
gezeigtwurdenunddemnächstzurFreudederKura¬
torinnenin Pariszusehenseinwerden. Fiirdiejenigen,
diedasLebenund Wirkendieseraußergewöhnlichen
europäischen Fotografin näher kennenlernen
wollen, empfiehlt sich der hervorragend gestaltete
Bildband: Eva Besnyö, 1910 — 2003, Fotografin/
Woman Photographer, Budapest. Berlin. Amster¬
dam, Berlin 2011.