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Statt eines Editorials

„Für und wider in dieser Zeit“ war der Titel der Rede, die Siglinde
Bolbecher bei der Festveranstaltung zum 25jährigen Bestehen der
Theodor Kramer Gesellschaft (TKG) am 24. September 2009 im
Plenarsaal des österreichischen Nationalrats hielt. Einige Auszüge
aus dieser Rede, die vollständig im Jahrbuch 12 der TKG „Subjekt
des Erinnerns?“ nachzulesen ist, mögen vergegenwärtigen, worum es
Siglinde gegangen ist und worum es weiterhin geht.

Die Kerngruppe der TKG sich aus dem Arbeitskreis zur Förderung
und Erforschung der österreichischen Exilliteratur herausgebildet.
Dieser Verein, dieses Seminar hat sich zunächst mit Jura Soyfer
auseinandergesetzt und u.a. eine Lesung mit Otto Tausig, dem
ersten Herausgeber der Schriften Soyfers („Vom Paradies zum Welt¬
untergang“, Wien 1947) organisiert. Und sie hat 1982/83 die erste
Theodor Kramer-Ausstellung vorbereitet — mit viel Engagement
und geringen Mitteln —, unterstützt vom Nachlaßverwalter Hofrat
Prof. Erwin Chvojka. Gezeigt wurde sie im Dokumentationsarchiv
des österrerreichischen Widerstandes, eröffnet von Bruno Kreisky,
dem damaligen Noch-Bundeskanzler. Bei dem darauffolgenden
Symposium im Juni 1983 (Dr. Karl Renner-Institut) regte Viktor
Matejka, der sich als Wiener Kulturstadtrat unverdrossen um eine
Rückkehr Kramers bemüht hatte, die Gründung einer „Iheo¬
dor Kramer Gesellschaft“ an, sehr unterstützt von Erich Hackl
und Karl-Markus Gauß. Brennend war das Problem des riesigen
unpublizierten lyrischen Werks — der große plebejische Dichter,
verfolgt und mit kapper Not 1939 nach England entkommen,
schien zu diesem Zeitpunkt völlig vergessen.

Nach der Gründung der Theodor Kramer Gesellschaft (Kura¬
torium: Bruno Kreisky, Hilde Spiel, Erich Fried) hat diese Kern¬
gruppe mit Herbert Staud, Peter Roessler, Gerhard Scheit, Erna
Wipplinger, Konstantin Kaiser und mir 1984/85 die Ausstellung
„Kabarett und Satire im Widerstand 1933-1945“ vorbereitet.

Über dieser Arbeit hat sich eine gewisse Methodik entwickelt,
die nicht ganz selbstverständlich ist, die ich verkürzt wohl in
einigen Aspekten darlegen möchte. Recherche — Reflexion plus
Veranschaulichung - Zugänglichkeit ermöglichen, verführen und
Neugier wecken, Kulturgeschichte gewissermaßen begehbar und
vor allem auch befragbar machen. Eine Arbeit, die nicht am still¬
gestellten Objekt konstatiert, sondern die Form eines Dialogs
annimmt.

Eine quasi spharische Bewegung zwischen wissenschaftlicher
Forschung und kulturelle Vermittlung; Zeitgeschichte und Poesie,
Literatur des Exils und der Gegenwart. Ein Seiltanz.

Bei allen Projekten waren die Recherchen und Ansätze
wissenschaftlicher Aufarbeitung eng mit einer Reflexion auf den
kulturgeschichtlichen Zusammenhang, aber auch auf die epo¬
chalen Zusammenhänge — mit möglichst genauer Kenntnis der
Zeitgeschichte — verbunden.

Es ging darum, die Frage nach der Satire nicht anhand vorgegebe¬
ner Definitionen abzuhandeln, vielmehr den Begriff Schritt für
Schritt mit der Durchdringung der ‚Sache‘ zu entfalten: Man
könnte von einer Bewegung des Begriffs in der Sache sprechen. [...]

So wurde es für unsere Tätigkeit prägend, die Reflexion über schr
allgemeine Dinge und von allgemeinen Bedeutungszusammen¬
häangen - „die Weltlage an und für sich“ — nicht vom konkreten

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Material, vom Schicksal der Menschen, von Schriften und Doku¬
menten zu trennen, nicht jener Arbeitsteilung zu verfallen oder
sich von ihr korrumpieren zu lassen, wo die einen über Zukunft
reden und die anderen gegen das Vergessen.

Die Theodor Kramer Gesellschaft ist kein „Erinnerungsamt im Ver¬
gessensbezirk“.

Von vornherein war unsere Arbeit recht hartnäckig und aus¬
dauernd. Sie war auch eine Arbeit gegen die finanzielle Not.
Für die Kabarett und Satire-Ausstellung hatten wir ungeheures
Material gesammelt: Texte, Sketches, Programme, ein paar hun¬
dert Fotos, viele Interviews mit Protagonisten, Stella Kadmon,
Hans Weigel, Elisabeth Neumann, Gerda Weys, Otto Tausig,
Heinrich Sussmann, Rudi Spitz, Franz Paul, Leon Askin, den
Nachkommen von Robert Ehrenzweig/Robert Lucas (eine Folge
die spätere Buchpublikation der BBC-Sendung für Schwarz¬
hörer im Dritten Reich „Briefe des Gefreiten Hirnschal“), und
ein gutes zeitgeschichtliches Rüstzeug erarbeitet. Wir hatten kein
Geld, die Ergebnisse zu sichern, im fairen Deal verkaufte ich die
Fotosammlung an das DÖW, um die Plakatrechnung zu zah¬
len. Das wiederum förderte nicht gerade das Vertrauen unserer
Gesprächspartner. Auch die öffentlichen Stellen ließen sich durch
die Erfolge nicht darüber hinwegtäuschen, daß niemand diese
Tätigkeit angeschafft hatte. [...]

Das ist die eine bittere Seite der Pionierarbeit, der wir uns
verpflichtet gefühlt haben. Aber Pionierarbeitet spannt an, beflügelt
und bedeutet, an die eigene Grenze zu gehen. Es ging nicht bloß
um die Kompilation des bereits Vorhandenem, sondern geweckt
war das Interesse an Schriftellern und Schriftstellerinnen, die
nicht 100fach erforscht waren. Das wiederum hängt eng mit der
Gender-Problematik (dem Wunsch nach Durchbruch in einem
Herrenhaus) zusammen. Unser Interesse galt dem Aufspüren von
Verschollenem, dem Neu-Begegnen und -Interpretieren einer
exterritorialisierten Literatur, die praktisch niemanden interes¬
siert hat [...]

Je länger wir auf dem Gebiet gearbeitet haben und je tiefer
wir eingedrungen sind, desto gewaltiger wurde das Gebiet, das
menschliche, künstlerische Ausmaß der Bezüge, Leistungen, Ein¬
flüsse, Netzwerke — damit stellte sich aber auch ein Bewußtsein
des Verlustes ein und Empörung. [...]

Wenn am Beginn unserer Arbeit die Fragen nach der histo¬
rischen Periode von Antifaschismus, Widerstand und Exil im
Vordergrund standen, haben wir gelernt, daß es eine „negative
Gegenwart“ gibt. Eine Gegenwart der fortwährenden Unterdrü¬
ckung und Ausschließung. Und es gibt eine „positive Gegenwart“
des Lebens und Arbeitens in vielen Ländern in literarischen
und literaturhististorischen Zusammenhängen. Dem verdankt
sich u.a. die Ausdehnung auf die Literatur der Bukowina mit
dem Zentrum Czernowitz — das einstmals Klein-Wwien, aber
ebenso Jerusalem am Pruth genannt wurde -, die Beachtung
der jiddischen Literatur. Auch der Mitarbeiter-Kreis weitete
sich aus [...]

Die negative Gegenwart in Bezug auf die Exilforschung zeichnet
sich durch Schablonisierung, Rubrizierung, Distanzierung, Xe¬
nophobie und Entsubjektivierung aus und einen im nachhinein