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den männlichen. Fast wie nebenbei beschreibt sie die Probleme der Frauen in einer Arbeiterbewegung in vorfeministischer Zeit. Sie berichtet von der „Macht der auserwählten Väter“ und der Unbefangenheit, mit der gegen Frauen diskriminiert und weibliches Selbstgefühl zerstört wurde. Sie bringt Beispiele von der patriarchalischen Herablassung in einer Bewegung, die sich die Gleichberechtigung so auf die Fahne geschrieben hatte, dass sie sie scheinbar nicht mehr durchzusetzen brauchte. „Mädchen in Bewegung“ ist streckenweise als Roman konzipiert, das heißt, es schlägt eine Iheaterbühne auf und lässt Personen, wie zum Beispiel eine italienisch/amerikanische Arbeiterfamilie, Dialoge sprechen, die das linksradikale Bewusstsein einer vergangenen Zeit ausdrücken, oder sie lässt die Streitereien zwischen gleichaltrigen Freundinnen aufleben oder die unsicheren Gespräche eines Liebespaars, die zu einer verfrühten Ehe führen. In solchen Szenen kommt das außerordentliche Erzähltalent der Autorin zum Ausdruck. Herz und Seele ihres amerikanischen Buchs ist jedoch, was sie bei den Irotzkisten fand, was sie ihr boten, nämlich, wie sie mit einer gewissen Wehmut feststellt, „eine Heimat unter Revolutionären und Träumenden“. Bei allem Abstand und aller Desillusionierung durch zeitliche Distanz und geschichtliche Perspektive, vermittelt sie ihren Lesern das Gefühl: Man wäre gern dabei gewesen. Das mitgebrachte Österreich wurde im New Yorker Exil von manchen der älteren Emigranten so innig behütet, dass sie sich weigerten, dieses kulturelle Gut mit kritischer Distanz zu relativieren. Manche wollten den ungeheuren Bruch, der stattgefunden hatte, nicht wahrnehmen. In ihrem zweiten Buch schreibt Kollisch über die Dichterin Mimi Grossberg, die in New York unverdrossen die österreichische Kultur zelebrierte und die Zerstörung dieser Kultur verdrängte. Lange Zeit fand Eva Kollisch diese Hingabe unverzeihlich oder doch unverständlich, aber dann war Eva selbst in Österreich zu Besuch, fühlte sich dort wohl und wollte mit Mimi Großberg nach ihrer Rückkehr darüber sprechen. Mimi Grossbergs Eltern waren aber im KZ umgekommen. Das wußte Mimi Grossberg jahrzehntelang schon, aber, so wie Eva Kollisch es erzählt, wollte oder konnte sie diese Tatsache nicht verinnerlichen. Sie suchte die Katastrophe in der Familie zu vergessen, um ihr ureigenes Österreich nicht zu verlieren. Und nun, als die Autorin das Heimweh der viel älteren Frau zu verstehen beginnt, spricht sie plötzlich am Telefon mit einer Tochter der Shoah, die von einer an Paranoia grenzenden Angst verfolgt und von den Gespenstern der jüdischen Vergangenheit geplagt ist. Die Autorin trifft hier den Nagel auf den Kopf, insofern als Festhalten und Verdrängung die beiden Pole des deutsch/jüdischen Exils in Amerika waren. Mimi Großberg verkörpert beide Extreme, in verschiedenen Lebensaltern und deshalb bestürzend, weil die Reihenfolge (Ablehnung und Versöhnlichkeit) die umgekehrte hätte sein sollen. Erst spät kam Eva Kollischs eigene Auseinandersetzung mit der Kindheit, das heißt mit dem Österreich, das man auch heute leicht vergisst, in dem der Antisemitismus schon vor dem Anschluss so alteingesessen war wie Dirndl und Lederhosen. In ihrem zweiten Buch, „Der Boden unter meinen Füßen“, kann man erfahren, wie die arischen Kinder in ihrer Heimatstadt Baden bei Wien das Gift mit ihren Butterbroten von zu Hause in die Schule brachten. Eva Kollisch erzählt nicht nur von sich selbst. Und da wir beide aus Wien stammen, obwohl ich leider länger dort war als sie, so meinte ich beim Lesen, sie erzählt auch von mir und erzählt 16 _ZWISCHENWELT mir mehr über mich, als ich selber weiß. Denn sie hat in einer Reihe hervorragender Geschichten die Konsequenzen einer noch ungefestigten Identität geschrieben, sodass ihre Leser die Schwankungen in den Hirnen und Seelen verfolgter oder verachteter Kinder miterleben. Sie erzählt von einem jüdischen Jungen, der versuchte, schlechte Noten zu bekommen, damit die anderen Kinder ihn nicht als „jüdischen Klugscheißer“ schimpften. Oder sie erzählt von Hedy Selig: „Die war neuneinhalb und arbeitete daran, tapfer zu sein.“ Die war Sportlerin und konnte gut schwimmen. Aber das nützte nichts. Auch ihr wurde mit dem Hochkommen der Nazis die Fähigkeit zu vertrauen weggenommen und zwar genau von denjenigen Erwachsenen, die Autorität verkörperten und zu denen sie aufgeschaut hatte. Da ist das arische Kindermädchen, die sehr lieb ist mit den Kindern, aber antisemitische Witze gern hört und sich über die Mutter der Kinder lustig macht. Das Kind ist hin- und hergerissen zwischen zwei Welten, bis sie eine Entscheidung trifft und das Kindermädchen preisgibt. Meine Lieblingserzählung von Eva Kollisch heißt einfach „Stehlen“. Darin wird die Ambivalenz hergebrachter moralischer Werte in der Person einer alten Frau dargestellt (die offenbar die Autorin oder Erzählerin selbst verkörpert), gegenüber den Vorstellungen eines Kindes, das eine ins Schleudern geratene Ethik wiederherzustellen sucht. Die alte Frau sitzt zusammen mit dem kleine Mädchen namens Fev, das sie einmal war und sie streiten miteinander. Das Kind berichtet, wie es einer Klassenkameradin namens Hilda Geld gestohlen hat, nicht nur einmal, sondern immer wieder. Und Fev kommt noch dazu aus einer wohlhabenderen Familie als die Bestohlene. Doch nicht nur bereut sie ihre Taten nicht, sie verteidigt sie sogar und behauptet, sie konnte gar nicht anders handeln,. Denn Hilda habe die Jüdin Fev wiederholt erniedrigt. Die alte Frau ist entsetzt über den Verstoß gegen die Gesetze der Gesellschaft und auch über die Gefahr, in die Fev ihre eigene bedrohte Familie damals brachte. Die Alte will die Kleine dazu bringen, ihre Taten und Ansichten zu bereuen und zu ändern. Diese jedoch besteht auf ihrem Recht und behauptet sogar, Gott habe es so gewollt. Das lässt aufhorchen, denn Gott kommt sonst kaum in Eva Kollischs Werk und Weltanschauung vor. Hier ist von etwas ganz Fundamentalem die Rede, nämlich wie Diskriminierung das Innere von Kindern aushöhlt, sie verwirrt, ihre noch schwankenden Begriffe vom richtigen Leben und moralischem Denken auszehrt und sie zu falschen Kompensationen greifen lässt. Durch den Widerspruch des betagten Ichs mit dem jungen, das ganz unbekümmert dasitzt und auf sein Daseinsrecht besteht, zeigt sie uns die Seele von Kindern einer ausgegrenzten Minderheit, die erst durch die Gehässigkeit der Umwelt zu AuBenseitern gestempelt wurde, da ja die Juden seit Generationen in der österreichischen Gesellschaft integriert waren. Ästhetisches und psychologisches Feingefühl greifen hier ineinander. Dass die junge, politisch aufgeschlossene Eva Kollisch wenig Toleranz für Verehrung österreichischer Kultur in New York empfand ist verständlich, hatte sie sich doch aus dem Badener Kind herausgeschält, dem die Buben auf der Straße judenfeindliche Spottverse hinterdrein riefen. Darunter ist ein Vers, der ging so:. ,Jud, Jud, spuck in Hut./ Sag der Mama, das ist gut.“ Wenn man im Internet sucht, so wird man erstaunen, wie oft Emigranten, die damals dieser Verhöhnung ausgesetzt waren, sich daran erinnern.