OCR Output

Als ich Eva auf dem Podium im Literaturhaus Wien diesen ge¬
reimten Schleim zitieren hörte, war's wie ein elektrischer Schock.

Warum ist das Aggressionspotential solcher Unsinnverse so be¬
twächtlich? frage ich mich. Sie waren jedenfalls nicht ohne Folgen,
Worte feuern an, sie führen weiter zu Gewalttaten und Prügeleien
Auch das beschreibt Eva Kollisch. Sie lernte zaubern, lässt sie
das Kind, das sie war, sagen, das heißt, sie eignete sich extreme
psychologische Bewältigungsstrategien an, um sich geistig über
Wasser zu halten. Wenn die Buben ihr auf der Straße auflauern
mit Spucke und Schlägen, was sie ja ungestraft dürfen, weil ihr
Opfer jüdisch ist, so „flog sie auf die Spitze des nächsten Baums;
auf diese Weise spürte sie überhaupt nichts“. Manchmal ist sie nicht
allein, es ist eine kleine Gruppe jüdischer Kinder, die von einer
größeren Gruppe überfallen wird, immer eine Mehrheit gegen
eine Minderheit, kein fairer Kampf, und die Erwachsenen stehen
oft daneben und schauen zu. Kinder raufen sich halt, da mischt
man sich nicht ein, so die Ausrede. Aber wenn die anderen doch
die Übermacht haben, gibt die kleine Eva kleinlaut zu bedenken.

Der 16. Band der Volksmusik in Österreich, erschienen bei Böhlau
in Wien im Jahr 2004, umfasst die „Sprüche, Spiele und Lieder
der Kinder“ in Niederösterreich vom Beginn des 19. Jahrhun¬
derts bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, ein stattliches Werk,
das Tradition bewahren und feiern will und daher auch stattliche
78 Euro kostet. Neben dem infamen „Hepp Hepp“ Geschrei der
Romantiker ist auch unser Vers darin enthalten, und im verharm¬
losenden Kommentar steht zu lesen: „Ehemals gehörten Spottrufe
und Lieder auf Angehörige anderer Ethnien und Religionen zum
selbstverständlichen Sprachgut der Kinder und waren eingebunden
in die Auseinandersetzung mit andersartigen Nachbarn. „ Selbst¬
verständliches Sprachgut; andersartige Nachbarn. Ehemals. Der
Verfasser dieser Sentenz, der noch im Jahre 2004 den Unterschied
zwischen nichtssagenden Auszählversen und rassistischem Geifer
nicht begreift, sollte Eva Kollisch lesen.

Eva Kollisch
Das Preisausschreiben

Dankworte zum Theodor Kramer Preis

Als ich die Nachricht bekam, dass ich den Theodor Kramer Preis
zuerkannt bekäme, war ich überrascht, freudig erregt und verwirrt.
Mit aufrichtiger Bescheidenheit fragte ich mich, warum denn ich?

Eine Bescheidenheit, die ich nicht empfand, damals in Baden,
im frühen April 1938, als ich, fast 13 Jahre alt, mit meinem Aufsatz
ein Preisausschreiben von Tissot gewonnen hatte. Den Preis hatte
ich verdient, fühlte ich, als eines Tages, kurz nach dem „Anschluss“,
die Leiterin des Badner Lyzeums in unser Klassenzimmer stürzte,
mich hinaus aufden Gang riefund mir ein kleines Päckchen in die
Hand drückte.

Es war die leibhaftige Uhr, der erste Preis in dem Wettbewerb,
gesponsert von der Firma Tissot, für Schülerinnen in Lyzeen oder
Mittelschulen in Österreich, über das Thema Die Uhrzu schreiben.
Ich war erfüllt von Stolz und Freude, denn ich dachte, was ich da
geschriebenhätte, seiwirklichgut. „Tick, tick, tick,nimmmichmit“,
so flüsterte die schöne Uhr im Schaufenster, und der Rest meines
Aufsatzes erzählte, wie ich sie befreite, mit nach Hause nahm, wo

Die Struktur von Eva Kollischs Narrativen, ob Fiktion oder Bericht,
ist, wie ich es sche, Gewicht und Gegengewicht, die in einem
Gleichgewicht münden sollten, aus dem allerdings oft nichts
wird. Daran dachte ich, als ich sie mir als wissbegieriger Teenager
vorstellte in der Public Library von New York mit einem Band
Hegel auf dem Tisch unter der Leselampe, wie sie es in „Mädchen
in Bewegung“ beschreibt. These, Antithese, Synthese. Sie denkt
immer über Diskrepanzen nach, nicht zuletzt die des damaligen
und des heutigen Österreich. Eine ausgestreckte Hand hält sie uns
zwar entgegen, aber um Lösungen ist es der reifen Schriftstellerin,
anders als dem engagierten Mädchen, nicht mehr zu tun.

Mit ihren Büchern im Kopf dachte ich, wie schön es gewesen
wäre, hätte ich Eva Kollisch damals in New York gekannt und
von ihr gelernt, damals als ich mir wie verlorenes Strandgut, aus
dem Nachkriegs-Europa angeschwemmt, vorkam. Später hatten
wir beide denselben Beruf, wir vermittelten deutsche Literatur an
amerikanische Studierende, doch ohne einander zu begegnen. Das
Gefühl einer geistigen Verwandtschaft ist auf meiner Seite sehr
stark. Womit ich sagen will, dass ihre beiden Bücher eine ganz
souveräne Authentizität über junge Frauen in der Vertreibung
und Emigration ausstrahlen.

Ihr erzählerisches Talent, hat sie, meines Erachtens, nie genügend
ausgebeutet, vermutlich weil sie die Qualität ihrer Erzählungen und
Lebensgeschichten unterschätzt. Ihre Freunde und Bewunderer
werden mir zustimmen. Aber sie schreibt ja noch immer. Ihre teils
unveröffentlichten Tagebuch- und Journaleinträge runden sich wie
von selbst zu vollendeten Kurzgeschichten und lebhaften Portraits.

Liebe Eva, möge die heutige Preisverleihung dich anspornen zu
weiteren schriftstellerischen Leistungen. Wir wünschen uns mehr
davon.

Oktober 2012 17