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sie dann glücklich mit meiner Familie und mir an meinem Handgelenk lebte. Der Jury musste mein Aufsatz ebenso gut gefallen haben wie mir selbst, dennich gewann die Uhr, dieselbe, dieunsereSchuldirektorin mir heimlich auf dem Gang, vor der Tür meines Klassenzimmers zusteckte. Ich dachte: „Warum kann sie mir die Uhr nicht vor der ganzen Klasse geben und ein paar Worte dazu sagen, so vielleicht, dass Eva Kollisch einen wunderbaren Aufsatz geschrieben hat. DieMädchen wiirden staunen.“ Meistenswurdeich den weniger begabten, schwer lernenden oder eigentümlich isolierten, verträumten Kindern zugerechnet. Aber es kam nicht zu dieser Szene wiedergutmachender Gerechtigkeit. Mit meinem kleinen Packerl wurde ich nach Hause geschickt. Ich malte mir aus, wie sehr meine Mutter sich über meinen Preis freuen würde. Ich wollte, dass sie aufsprang, meinen Vater und meine Brüder herbeirief und mich voll Stolz anlächelte, weil ich etwas Schönes, Gutes, Fröhliches- die tickende Tissot-Uhr- in unser seit der Naziherrschaft verängstigtes Heim gebracht hatte. Aber eskam nicht dazu. Sie umarmte mich zwar und streichelte mir die Haare, aber gleich war sie wieder, so wie alle anderen Familienmitglieder, mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt. Ein paar Wochen später schickte uns jemand anonym eine kleine Zeitungsnotiz, worin, so wie jedes Jahr, über die Höhepunkte des vergangenen Schuljahrs berichtet wurde. Ich ging nicht mehr in die Schule, waralsJüdin entferntworden, lasabermitgroßem Interesse, gefolgt von Staunen und dann einer mir bis dahin ungekannten Bitterkeit, dass „ein Kind aus unserer Schule“ den ersten Preis für den Aufsatz „Die Uhr“ von der Firma Tissot gewonnen habe. Erst um diese Zeit fiel mir auf, wie schnell seit dem „Anschluss“ die neuen Nazi-Regeln und -Gesetze in Bezug auf Juden und deren Ausgrenzung durchgeführt worden waren. Damals hatte ich noch nicht verstanden, dass das in ganz Österreich geschah, nicht nur in Baden. Ich dachte, es geschehe bloß wegen der vielen Nazis in meiner Heimatstadt; aber meine Mutter sagte, dass da auch viele anständige Menschen lebten, die aber, wegen der großen Angst vor den Nazis, nicht imstande seien zu helfen. Das sei schr traurig, meinte sie, verständlich, aber nicht geradezu bewundernswert. Meine Mutter war eine Idealistin und glaubte an Menschenliebe, Wahrheit und Gerechtigkeit. Die Uhr, die ich gewonnen hatte, ging wahrscheinlich mit den meisten Sachen, die wir besaßen, einschließlich des Klaviers meiner Anna Mitgutsch Mutter und meines neuen Fahrrads, auf das ich jahrelang gespart hatte, in einem Lift im Hafen von Bremen verloren; so versuchte nach Kriegsende ein österreichischer Beamter, der sich mit dergleichen Fällen beschäftigte, den Verlust unseres Hausrats zu erklären. Meine Eltern trauerten ihren früheren Besitztümern nicht nach. Sie hatten anderes zu tun - ein neues Leben zu beginnen. Und ich versuchte, mirein Beispiel an ihnenzunehmen. Nur dachte ich, dass mir jetzt niemand glauben wiirde, wenn ich sagte, dass ich einmal eine Uhrals ersten Preis bei dem Preisausschreiben der Firma Tissot gewonnen hätte. AberdieVerleihungdes IheodorKramer-Preisesmachtvieleswieder gut. Nicht, dass ich ihn verdient hätte: Ich habe wenig geschrieben, und ich war in Österreich nie im Widerstand (außer dem, mich einmalaufeine Bankzusetzen, aufder „Juden verboten“ geschrieben stand). Und in Amerika protestierte ich wohl, bei verschiedenen Gelegenheiten gegen das Regime, z.B. während des Vietnamkrieg, wo ich bei einer Friedensdemonstration verhaftet wurde — aber nie unter Lebensgefahr. Der Widerstand, den ich leistete, existierte hauptsachlichin meinem Kopf, unddortisterimmernoch, vielleicht mehrdennje, seitich besser informiertundzudemalt geworden bin. Fast jeden Tag, trotz all dem, was ich selbst erlebt, im Fernsehen gesehen oder mit starker Anteilnahme in Zeitungen gelesen habe, stelle ich mir staunend die Frage: Warum iiberall Ausgrenzung, Verfolgung, Folter, Gewaltgegen die Natur, Téten? Wirwerdendochalle sterben, und das ist unser einziges Malaufdieser schönen, traurigen Welt. Wir haben nicht viel Zeit. Aberzu meiner Freude, gibtesauch viele andere, meist jüngere Menschen, die ähnlich denken wie ich, die engagiert sind und kämpfen -aufihnen ruht meine Hoffnung. Ich bedanke mich bei der Theodor Kramer Gesellschaft und ihren Mitgliedern,diedurchihrWissenund ForschendieJudenverfolgung inÖsterreichunddessen Nachbarländernimmerneubeleuchtenund inihrenPublikationenundöffentlichen Diskussionen Verdrängung, Gleichgültigkeit, Unrechtund DiskriminierungalsdieErzfeindedes heutigen Österreich erkennen. Ich bedanke mich bei ihnen für den schönen Preis, densiemirzugedacht haben, nachdem wunderbaren Dichter Theodor Kramerbenannt, undakzeptiereihn mit Freuden. Ich bedanke mich besonders bei Ruth Klüger, die mir mit ihrer Lebensgeschichte und ihrer literarischen Produktion gezeigt hat, was Mut, Gescheitheit und absolute Ehrlichkeit sind; und deren geistige Arbeit, trotzallem, wassiealsKindin Auschwitzundanderen Nazi-Lagern erlebthat, Weisheit und Lebensfreudeausstrahlt—und die sogar das schöne, herausfordernde Wort „weiterleben“ im Titel ihrer Autobiographie verwendet hat. Über Eva Kollisch Wenn ich in den USA oder in Israel bin, wo Juden keine Exoten sind, aber mitunter auch hier, in Österreich, denke ich manchmal, wie es wäre, in einem Land zu leben, in dem es den Nationalsozialismus, die Shoah nicht gegeben hätte. Es ist ein schmerzhafter Gedanke, denn er deckt den ganzen, alle Lebensbereiche 18 _ ZWISCHENWELT umfassenden Verlust auf, den dieses Land durch die Vertreibung und Ermordung seiner jüdischen Bevölkerung erlitten hat. Um so wichtiger ist es, die Erinnerung an diesen Verlust wachzuhalten, und auch daran zu erinnern, wie viele Jahrzehnte die Vertriebenen auf eine Entschuldigung, eine Anerkennung, auch von offizieller