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Plato, Spinoza hervorgebracht hat, wo die Autorität der Mächte, die einen Völkerbund schuf, wo der siegreiche Geist des menschlichen Genius, der uns das völkerverbindende Mittel das Radio in die Hände gelegt hat? Wo ist sie, die Organisation der Kirche, einst weltumspannend, jetzt, wo es gilt, den christlichen Geist vor Verfolgung zu retten? Und wo sind sie, die Staaten der Welt, in den Kategorien eines abgewirtschafteten Kapitalismus denkend, wo die Macht ihrer Börse, ihrer Zölle, ihrer Handelsverträge und ihrer Boykotte, ihrer toten Armeen von Ziffern und Statistiken? Sie sind beschäftigt, den erschöpften Adern ihrer Geldwirtschaft durch großangelegte Währungsmanöver neues Blut zuzuführen, während ein imposantes Werk der Kultur von barbarischen Horden zerstampft wird. Von keiner Seite der Welt, wenn nicht der innere Prozeß in Deutschland eine entscheidende Wendung nimmt, scheint es Hilfe zu geben für die Unglücklichen, die in ihrer eigenen Heimat abgewürgt werden, und der moralische Weltuntergang scheint beschlossene Sache. Hie und da ertönt ein Aufschrei der Empörung — aber er verhallt ungehört in dieser Welt eigensüchtiger Interessen. Mit dem noch blutigen Dolch in der Hand durften die, die heute Deutschland regieren, sich an die Beratungstische der Nationen setzen und in der urbanen Form internationaler Höflichkeit werden die Verantwortlichen dieses gewaltigen Dramas von den Kulturstaaten empfangen. Bei aller Konzession an den Opportunismus, ohne den nun einmal nicht regiert werden kann, vermag es das Gemüt eines ethisch fühlenden Menschen doch nicht zu erfassen, daß solche Schuld einfach ignoriert wird, daß ein Guerillakrieg gegen ein wehrloses, schwaches Nachbarland unter dem diplomatischen Schweigen der Völker geführt werden kann, daß die Kultur, der wir den Glauben einer Religion dargebracht haben, ihre Schändung schweigend hinnimmt. Auf sie haben wir tief in unserem Innern vertraut, wenn wir in ahnungsvollem Grauen die Schatten der apokalyptischen Reiter sahen, die jetzt über die einst so blühenden Felder Deutschlands dahinjagen, und unser letzter Trost war es zu denken: Die zivilisierte Welt kann das Schlimmste nicht dulden. Sie duldet es. In dieser an Schlagworten so reichen Zeit hat sie sich ein Schlagwort zurechtgelegt, mit dem sie ruhigen Auges den Nachbarn im eigenen Hause verbrennen sieht: Das Wort von den „inneren Angelegenheiten“ eines Landes, in die sich zu mischen ihr verboten ist. Mögen Recht- und Gesetzlosigkeit triumphieren, mag die Gewalttat ihre Scheußlichkeiten vollbringen, dieser billige, bequeme Grundsatz ist zu einem Primat des Gesetzes erhoben worden, gegen den alles geflossene Blut, alle geschlagenen Wunden, alle vernichteten Existenzen, alle geschändeten Rechte nicht aufkommen. Wenn es der deutschen Regierung, die wie in einem Blutrausch wandelt, einfallen sollte, die „Marxistenfrage“ durch Abschlachten einiger Hunderttausend Arbeiter und Juden zu lösen, würde in dieser Welt des Opportunismus außer einigen Verzweiflungsschreien des noch nicht erschlagenen Fortschrittsgeistes nicht mehr geschehen, als heute geschehen ist, nicht ein Bankdirektor würde auf seine deutschen Spekulationsgewinne verzichten und keine Grenze auf ihren Zollgewinn aus Deutschland. Dem ethischen Optimismus ist die schwerste Wunde geschlagen worden. Als der Krieg ausbrach, hat er seine erste Niederlage in diesem Jahrhundert erlebt: Ein Krieg in unserem Zeitalter, so folgerte er, ist eine Episode. Sie hat vier Jahre gedauert, sie dauert noch. Der Sammlung der Irrtümer, die sich in der Entwicklung des fühlenden und denkenden Menschen anhäuft, müssen wir längst jenes falsche Ideal beifügen, das in uns den Glauben an die Macht der Kultur geboren hat. Die Kultur - sie ist nur ein oberflächlicher Firnis, den die schaffende Menschheit über die Triebe, die Leidenschaften, die Instinkte des Urmenschen legt. Nur wo materielle Güter bedroht sind, regt sich der Egoismus der Welt zur Verteidigung. Für höhere Zwecke als für Industrie und Handel wird kein Schwert gezogen und das Blut tausender Unschuldiger wiegt nicht die Handbreit Erde auf, vor dem sie mit Kanonen ihre Wacht halten. Und noch immer wissen sie es nicht, die das Leben ihrer Treuen auf den Schlachtfeldern geopfert haben und noch immer findet die neue Lockung nach dem Kampfe „um die heiligsten Güter“ willige Ohren. In diesem Chaos ringend, das die blutige Phrase aufs neue entfesselt hat, würde die weltanschauliche Gesinnung des Einzelnen mit dem Bankrott der Kultur unweigerlich Schiffbruch erleiden, wüßte er nicht sein Streben und die Zukunft der Menschheit an ein höheres Ziel zu knüpfen, als die Gesamtbilanz unseres gesellschaftlichen Lebens es aufzuweisen hat: Das ist die über allen Formen der menschlichen Entwicklung stehende Idee der Gerechtigkeit, der der Sozialismus dient, die Idee der Freiheit und Gleichheit, die der Seele des gesunden Menschen als ein von der Natur mitgegebenes Bewußtseinsgut eingeboren ist, für die wir leben und sterben wollen als für die reine Religion des Geistes, die unverrückbar, ein Axiom des menschlichen Willens, über alle Schwächen und Krämpfe der Zeit hinweg ihren Weg der Vollendung geht. Neuer Vorwärts. Nr. 6, 23. Juli 1933. — Erneut abgedruckt in Herbert Exenberger (Hg.): Als stünd“ die Welt in Flammen. Eine Anthologie ermordeter sozialistischer SchriftstellerInnen. Wien 2000, 217-220. (Der „Neue Vorwärts“ erschien unter der Leitung von Curt Geyer als Zentralorgan der Exil-SPD ab dem 18. Juni 1933 bis 1938 in Prag, dann bis 1940 in Paris.) Thekla Merwin wird am 25. April 1887 in Riga geboren, sie ist die Tochter von Chaje Sarah und Iwo Blech. Am 27. Dezember 1908 heiratet sie den späteren Anwalt Emil Merwin in der „Polnischen Schule“ (Synagoge) im 2. Bezirk in Wien. Die Familie Merwin wohnt, bald dann auch mit Tochter Magda, geboren am 7. April 1911, im 9. Wiener Bezirk. Thekla Merwins erste Publikation erscheint ebenfalls 1911. Ihre ersten Beiträge wird sie noch mit Thekla Blech-Merwin signieren. Sie hat Zeit ihres Lebens nie eine selbständige Publikation herausgegeben, dafür aber in etlichen Zeitschriften und bald auch Zeitungen publiziert, wie in „Der Causeur“, „Der Merker“, „Neue Freie Presse“, „März“, „Neues Wiener Tagblatt‘, „Arbeiter-Zeitung“, „Arbeiterwille“, „Neues Wiener Abendblatt“, „Der Sozialdemokrat“, „Die Frau“, „Der jugendliche Arbeiter“, „Neuer Vorwärts“, „Unser Kalender 1934“. „Die an den Rand der Gesellschaft gedrängten Menschen sind es, die in den vor allem in der sozialdemokratische Presse veröffentlichten Gedichten konkrete Gestalt und auch konkrete Forderungen für ihre Zukunft fanden. Nicht unerwähnt sollen auch die kulturpolitischen und literaturhistorischen Beiträge von Thekla Merwin bleiben. Gerade mit solchen Beiträgen begann sie ihre schrifistellerische Tätigkeit. Sie schrieb etwa Abhandlungen über die Schrifisteller Oscar Wilde, Georg Herwegh, Heinrich Jung oder über die österreichische Dichterin Betti Paoli, die eigentlich Elisabeth Glück hieß.“ (Herbert Exenberger). 1933 wird sie Mitglied der Vereinigung sozialistischer Schriftsteller. Im Sommer 1934 stirbt ihr Mann. Im „Ständestaat“ publiziert sie nichts mehr. Ihre Tochter Magda wird Juristin. Mit Beginn der Oktober 2012 39