Gerhard Scheit
Folter und Vernichtung
1.
In den Unmeisterlichen Wanderjahren schreibt Améry riickblick¬
end, dass Sartres Werke ihm nach seiner Befreiung aus dem Lager
„zur ganz persönlichen Philosophie des Lebenshungers“ geworden
waren:
Ich war aufgestiegen von den Toten, ein Nichts, hatte nichts, stellte
nichts vor als einen ausgemergelien Körper, an dem die von Wohlfahrts¬
werken zur Verfügung gestellten Kleider schlapp und unordentlich
hingen. Da ich aber nichts war, konnte ich dank der Sartreschen
Freiheit alles sein. Und da ich alles sein konnte, wollte ich das auch.'
Wie autobiographisch diese Bemerkung auch gemeint sein mag,
schon in der Formulierung von der ganz persönlichen Philosophie
des Lebenshungers trifft sie — wie so viele vordergründig biogra¬
phische Passagen bei Améry* — etwas Entscheidendes: Sartres
Bruch mit der deutschen Ideologie des Todeshungers, seinen
Einspruch gegen die Philosophie Heideggers — also gegen das
„Sein zum Tode“, worin der Denker des Nationalsozialismus und
Vordenker des Poststrukturalismus Subjekt und Objekt, Einzelnes
und Allgemeines und damit die ganze philosophische Tradition,
die von diesen Begriffen bewegt wird, begraben hat. Es war diese
ideale Philosophie einer Volksgemeinschaft, die auf den Vernich¬
tungskrieg ausgerichtet war, deren Grundlage Sartre mit einem
einzigen Satz dementieren wollte: „Der Tod ist das Falsche“. Im
„Fürsichsein“ — Sartres Subjekt-Begriff - gibt es keinen Platz für
den Tod: es könne sich auf ihn hin nicht entwerfen; er verleihe
dem Leben keinen Sinn.? Das ist die Philosophie dessen, der sich
nicht mit der deutschen Besatzungsmacht identifiziert, der sich
dem Widerstand, der Resistance anschließen möchte. Inwieweit
Sartre das dann tatsächlich getan hat, steht auf einem anderen Blatt.
Nun verhält es sich aber nicht so, dass Sartre zur philosophischen
Tradition einfach zurückgekehrt wäre, zur Aufklärung und zum
Freiheitsbegriff etwa von Kant, was doch so nahe zu liegen schien
angesichts der deutschen Barbarei. Sartre schlägt diesen Weg zu¬
rück aus, sein Freiheitsbegriff hat nicht mehr wie der Kantische
das Bezugssystem des Intelligiblen: der moralischen Gesetze, des
kategorischen Imperativs. Bei Kant ermöglicht der Imperativ eine
Art Eingrenzung und Abstufung der Verantwortung in Hinblick
darauf, dass hier — angelehnt ans Vertragsverhältnis — das Handeln
in einem bestimmten und bestimmbaren Fall formell eingeschränkt
wird auf das Verhältnis des einen Individuums zum jeweils ande¬
ren. Bei Sartre existieren solche Vermittlungsformen nicht mehr,
stattdessen wird die unmittelbare Verantwortung des einzelnen für
das Ganze postuliert - und eben darin könnte Z’Eire et le Neant
als die Subjektphilosophie im Zeitalter des Nationalsozialismus
begriffen werden — oder mit den Worten Franz L. Neumanns:
im Zeitalter des neuen Behemoth. Den Namen des biblischen
Ungeheuers hatte einst Hobbes für den permanenten Bürger- und
Bandenkrieg verwendet, für die Aufhebung jeder Eingrenzung
der Gewalt, wie sie das andere Staatsungeheuer, der Leviathan,
immerhin ermögliche. Neumann sieht im Nationalsozialismus
die unter entwickelten Produktionsverhältnissen hereinbrechende
Wiederkehr des Hobbesschen Schreckensszenarios. Seine Ana¬
lyse, etwa zur selben Zeit wie Sartres Hauptwerk in den USA
geschrieben, ist gerade darin von zentraler Bedeutung, dass sie
den NS-Staat als wirklichen „Unstaat“ zu begreifen vermag, worin
alle, durch die bürgerliche Gesellschaft entwickelten Vermittlungs¬
formen zugunsten der unmittelbarer Herrschaft von Banden, der
Formationen von Partei, Staat, Wehrmacht und Kapitalgruppen,
aufgelöst werden und letztlich sogar die Einheitlichkeit des Ge¬
waltmonopols zu Schanden geht.‘ Einheit in dieser vollendeten
„Formlosigkeit“ von Herrschaft, wie sie später auch von Hannah
Arendt durchleuchtet wurde, gibt es letztlich nur noch darin,
dass alles auf den Vernichtungskrieg ausgerichtet wird, auf die
Vernichtung der Juden.
So entspricht es umgekehrt durchaus einer inneren Notwen¬
digkeit, dass Sartre einen kategorischen Imperativ erst zurückge¬
winnen konnte, als er 1944 das Portrait des Antisemiten entwarf
(wie der ursprüngliche Titel der Schrift Reflexions sur la question
Juive lautete): so zu denken und zu handeln, dass der Antisemit
nicht herbeiführen kann, was er seinem Wesen nach will: den
Tod des Juden. Wobei sich Sartre zugleich auch darüber klar
geworden war, dass die „schlechte Einrichtung der Welt“ — die
in L’Etre et le Neant eben durch jene Ontologisierung der Ver¬
mittlungslosigkeit noch gar nicht zur Debatte stand - stets aufs
Neue den Antisemiten hervorbringe, solange der Daseinsgrund
des Antisemitismus nicht beseitigt sei, der in dieser schlechten
Einrichtung fortdauere. Auf die Revolution zu warten, die ihn
beseitigt, wäre aber eine „faule Lösung“.‘
Sartre konnte diesen kategorischen Imperativ nach Auschwitz
formulieren, weil sein Denken einem anderen Staunen entsprun¬
gen ist als dem falschen, dass „die Dinge, die wir erleben, im
zwanzigsten Jahrhundert noch möglich sind“, wie Walter Benjamin
es präzise benannte.’ Die Ontologisierung der Vermittlungslo¬
sigkeit, die in Das Sein und das Nichts betrieben wird und in der
Begrifflichkeit des „Fürsichseins“, der „Situation“ und des „Blicks
des Anderen“ zum Ausdruck kommt, war genau darin bereits
Einspruch. Den Gedanken der Versöhnung, der Erfüllung eines
Glücksversprechens, das gesellschaftlich gegeben worden ist und
sogar das Verhältnis zur Natur umfasst, wehrt sie zwar ab, kann sie
gar nicht denken, da er doch letztlich von Vermittlung inspiriert
ist; sie verleugnet auch einen Wahrheitsbegriff, der sich in der ganz
und gar nicht rhetorischen, sondern radikalen Frage manifestiert:
Wie kann ein Ganzes sein, ohne dass dem Einzelnen Gewalt
angetan wird.° Und doch ist der Gedanke bei Sartre inmitten der
Ontologisierung da: im Ausdruck des Staunens darüber, dass die
Dinge, wie wir erleben, die vollständige Vermittlungslosigkeit und
also die totalitäre Gewalt, überhaupt möglich sind. Darin haben
schließlich auch die Beispiele aus dem Alltag von Nationalsozia¬
lismus und Besatzung, ohne die Sartre bei der Darlegung seiner
Philosophie offenbar nicht auskommen kann, um die „Situation“
zu explizieren, ihren eindeutigen Sinn, den das „usw.“ nur ka¬
schiert, das er ihnen anfügt (sie können sich auch zu Erzählungen
oder Dramen ausweiten), und der innere Zwang, dieses Staunen
auszudrücken, ist es eigentlich, was Sartre nicht anders als Kafka
antreibt zu schreiben. Es ist aber als solches nur möglich, wenn
es irgendwo noch die fernste Erinnerung an ein Versprechen