3.
Wir erinnern uns der vielen Seiten, die Jean Améry dem Elend des
Exils gewidmet hat, dem Ausgeschlossensein des unerwünschten,
von Heimweh traktierten Exilierten.?! Er beneidete die Flamen,
die so selbstverständlich „Bij ons“ sagen konnten, und auch Gorz,
der ein Kapitel seiner Autobiographie Z’exchusion nennt, lässt seiner
Verbitterung freien Lauf: „Sie, sie haben alle Rechte. Sie sind zu
Hause, in Sicherheit, haben eine Zukunft. Du frisst ihr Brot, sie
wollen dich nicht. Dreckiger Ausländer, Boche, Jud, warum sollten
sie dich auch wollen?“. In der Schweiz fühlte er sich von einer
feindlichen Welt umgeben, nährte ständig Selbstmordgedanken,
hielt sich nur durch die Arbeit am Essay aufrecht.
Unterschiedlicher bei beiden ist ihr Verhältnis zur Heimat.
Trotz seiner fürchterlichen Erfahrungen mit den Deutschen und
Österreichern wollte Amery ursprünglich nach Österreich zu¬
rück, blieb diesem Land in einer Art Hassliebe verbunden“,
fuhr jedes Jahr dorthin, und wurde im Laufe der Jahre auch in
Deutschland wieder heimischer. Gorz, der allerdings schon mit
16 seine Heimat verließ und so der Deportation entkommen
konnte, brach mit dieser radikal. Nach seinem Diplom kam er
nach neunjähriger Abwesenheit wieder für einen Monat nach
Wien, was er wie folgt kommentiert:
[Die Familie] war mir so fremd geworden wie das Land, das meines
gewesen war. ... Ende Jänner habe ich zu meiner Mutter gesagt, ich
würde zu meinem Geburtstag ‚nach Hause‘ nach Lausanne fahren.”
Insofern scheint Ame£ry seine eigene Heimatsehnsucht auf Gorz
zu projizieren, wenn er in seinem Vergleich zwischen Sartres Les
mots und Le traitre schreibt, hinter Gorz’ hektischem Suchen nach
Identität stecke nichts anderes als das Verlangen nach Heimat¬
verwurzelung”, doch er täuschte sich: Gorz’ Ressentiment war
unüberwindbar. Am£ry schreibt von sich, er habe nach dem Krieg
eine geraume Weile nicht mehr Deutsch sprechen wollen’, Gorz
sprach tatsächlich nie mehr Deutsch. Als Dorine in den fünfziger
Jahren Deutsch lernen wollte, hatte er sie davon abgehalten.
„Ich will nicht, dass du ein einziges Wort dieser Sprache lernst‘,
sagte ich zu dir. „Ich werde nie mehr in meinem Leben Deutsch
sprechen“. Du konntest diese Einstellung von Seiten eines Austrian
Jew verstehen. ®®
4.
Anders als der an sich sehr schiichterne Gorz wagte es Améry,
der Sartre etwa zur selben Zeit in Briissel traf wie Gorz in Lau¬
sanne, nicht, den verehrten Mann anzusprechen, aus Scham vor
dem eigenen Unvermögen, wie er sagt.” Beide schienen von der
Persönlichkeit Sartres noch mehr fasziniert zu sein als vom Exi¬
stentialismus.‘' Beide begegnen dem Meister lange mit starken
Minderwertigkeitskomplexen. Beide tun sich anfänglich schwer
mit seinen Schriften“, sehen in ihnen aber bald eine Art Bibel
für ihre Lebensführung. Gorz lebte schließlich „in einer Welt die
von LEtre et le Neant umgrenzt war“.“ Beide hingen dem Exis¬
tentialismus aus einem tiefempfundenen Nichtigkeitsgefühl an.
„Da ich aber nichts war, konnte ich dank der Sartreschen Freiheit
[d. h. Entwurfsfreiheit] alles sein“, erinnert sich Améry*’, und
Gorz schreibt, er habe verstanden, auch eine Null könne also von
Null an wieder beginnen. Allerdings hielt, zumindest am Anfang,
Amery am ontologischen Verständnis der Entwurfsfreiheit fest,
während Gorz, in den Fondements und in Le traitre, noch vor
Sartres Critique de la raison dialectique, den dialektischen Cha¬
rakter der existentiellen Wahl, also die dialektische Beziehung
zwischen persönlicher Entscheidung und historisch-kollektiver
Situation betonte. Ame£ry blieb, trotz einschneidender Revisionen
der Sartreschen Philosophie, bis zum Schluss auch insofern dem
Existentialismus von Z’Etre et le Neant treu, als er sich bis zum
Ende seines Lebens mit zentralen existentiellen Fragen wie dem
Altern oder dem Freitod auseinandersetzte, janoch in den späten
Essays, wie er selber schrieb, den frühen Sartre gegen den späteren
auszuspielen versuchte.“
Als Gorz Sartre 1946 in Lausanne traf, warf er diesem sein
Engagement vor, worauf Sartre antwortete, Gorz denke so, weil
er Schweizer sei. Wäre er Franzose, müsste er sich auch engagie¬
ren. Nach Frankreich übersiedelt, folgte Gorz dann Sartre bis in
die 70er Jahre tatsächlich in allen seinen Engagements, zumal er
mit diesem die theoretische Hinwendung zum Marxismus teilte.
Dasselbe gilt, politisch gesehen, ungeachtet seiner philosophischen
Revisionen, im wesentlichen auch für Améry, wie er es in dem
späten Artikel „In den Wind gesprochen“ selber noch einmal
nachzeichnet. Erst durch den Einmarsch der sowjetischen Truppen
in die Tschechoslowakei 1968 sei ihm der Star des linken Auges
endgültig gestochen worden.“ Nach ‚68 allerdings rechnete er im
Namen des, wie er schreibt, „ganz zu Unrecht lächerlich gemachten
common sense“ mit dem politischen Existentialismus ab und
erkennt die Geschichte des politischen Sartre als die Geschichte
eines, allerdings ehrenvollen, Scheiterns.*’ Andre Gorz, der be¬
reits früh postulierte, nur ein Wissen, das von der Wissenschaft
sich löse, könne befreiende Wirkung haben, wandte sich in den
70er Jahren den alternativen Theorien von Ivan Illich und der