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Editorial

Der 13. März, der Tag, an dem das Gesetz über die Wiederverei¬
nigung des Landes Österreich mit dem Deutschen Reich von der
am 11. März eingesetzten Regierung Seyß-Inquart kundgemacht
wurde, ist vorüber. Das Gedenken, sofern es heuer aus Anlaß
des 75. Jahrestages stattfand, stand im Zeichen der allgemeinen
Anerkennung der „Opfer-Mythos“-Ihese, also der Kritik an der
Selbstexkulpierung Österreichs von der Mitschuld an den NS¬
Verbrechen, gestützt auf die Moskauer Erklärung der Alliierten
Mächte vom 1. November 1943, in der das Land Österreich als
erstes Opfer der „typischen Angriffspolitik Hitlers“ genannt wird.

Das Problem war ja immer schon, daß die staatsrechtliche Seite
der Angelegenheit von jener Mentalität, in der sich viele Öster¬
reicherInnen schon seit dem Ausgang des Ersten Weltkrieges als
Opfer und Spielball schicksalhafter Mächte sahen, nicht unter¬
schieden wurde. Diese Mentalität begünstigte die Verdrängung
und förderte nicht gerade das Gefühl der Verantwortung.

Wenn man aber von einem „Opfer-Mythos“ spricht, der bis zur
Waldheim-Affäre Österreichs Umgang mit der „NS-Vergangen¬
heit“ beherrschte, dann gesteht man dem Mythisch-Irrationalen
einige Macht über die Menschen zu, eine Macht, die nur auf
Befangenheit des Denkens im Mythisch-Irrationalen fußen kann.
Nun leben wir aber in einem Zeitalter, in dem im allgemeinen
Mythen und Legenden nicht mehr als tauglich für die Erklärung
historischer Vorgänge angesehen werden. Es wäre also besser,
die Entwicklungen in ihrer Verschlungenheit präziser zu fassen,
statt sich mit dem „Opfer-Mythos“ von der dunklen Masse ös¬
terreichischer Nachkriegsgeschichte ins lichtere postnationale
Zeitalter einfach abzustoßen. Dann müßte man schon von einem
„Opfermythos-Mythos“ sprechen, um es in der Diktion mythi¬
sierenden Geraunes auszudrücken.

Übrigens wird in den gegenwärtigen Bildungsdebatten in Ös¬
terreich vollkommen vernachlässigt, daß unser Bildungswesen bis
heute noch an dem unheilvollen Erbe von Austrofaschismus und
Nationalsozialismus krankt: Die Allzuvielen, die in der faschisti¬
schen Mobilisierung zum „Kampf als inneres Erlebnis“ fanden,
zogen sich nach der Niederlage in einen geistig abgeriegelten
Innenraum zurück, aus dem sie den fremd gewordenen Gang der
Dinge in der Welt mißtrauisch verfolgten und sich zugleich in
pragmatischer Emsigkeit an ihm beteiligten. (Der Euphemismus
dazu lautet „Wiederaufbaugeneration“.) Diese Haltung wurde
vielfach weitergegeben und produzierte nicht Wißbegier und
Neugier, sondern die immer von neuem mißmutig vorweg gestell¬
te Frage nach der praktischen Brauchbarkeit von Lehrinhalten.
Selbstredend interferiert solcher Mißmut mit den Einstellungen
von nach Österreich Zugewanderten, die über ein taktisches
Verhältnis zu ihrer Umgebung außerhalb familiärer Bande nicht
hinaus gekommen sind. Und die dröhnende Propaganda sich als
in Wirtschaftssachen kompetent Ausgebender (deren Einstellung
ja auch noch durch ihre Eltern und Großeltern mitgeprägt ist)
trägt zur gängigen Bildungsverachtung das Ihrige bei.

Wieder einmal läßt sich hier mit G.W.F. Hegel sagen: „An
diesem, was dem Geiste genügt, läßt sich die Größe seines Ver¬
lustes ermessen.“

4 ZWISCHENWELT

Die neue Lyrikreihe „Nadelstiche“, begonnen mit Büchern von
Siglinde Bolbecher und Trude Krakauer, wird im Herbst mit
Tamar Radzyner und Willy Verkauf-Verlon fortgesetzt. Über
Tamar Radzyner berichtete ich vor nunmehr zehn Jahren in dieser
Zeitschrift. Überlebende des Ghetto-KZs Lodz und der folgenden
Lager-Odyssee, schrieb sie in polnischer Sprache, che sie, bedrängt
von dem in Polen neuerlich aufgeflammten Antisemitismus, mit
ihrem Mann und zwei kleinen Töchtern in Wien Zuflucht fand.
Hier begann sie, auf Deutsch zu schreiben. Georg Kreisler ent¬
deckte sie als Chanson-Texterin. Einige ihrer Gedichte finden sich
in der großen Anthologie „In welcher Sprache träumen Sie?“1991
istsie in Wien verstorben. Ihr einzigartiges lyrisches Werk ist noch
zu entdecken. Der Band wird auch etliche Übersetzungen von
Gedichten aus dem Polnischen enthalten.

Willy Verkauf-Verlon war bis zu seinem plötzlichen Herztod
am 12. Februar 1994 in Nachfolge Erwin Chvojkas Vorsitzender
der Iheodor Kramer Gesellschaft. 1917 in Zürich geboren, in
Wien aufgewachsen, 1933 nach Palästina emigriert, 1946 nach
Österreich zurückgekehrt, nach vielen Richtungen begabt und
tätig, hinterließ er auch viele Gedichte. Ich hatte 1983 die Heraus¬
gabe seiner Erinnerungen, „Situationen. Eine autobiographische
Wortcollage“ besorgt; kurz vor seinem Tod übergab mir Willy eine
Sammlung mit dem Titel „Auch Worte haben Grenzen“. Es war
damals nicht möglich, gewisse Schwierigkeiten zu überwinden;
jetzt werden diese Gedichte endlich zugänglich werden.

Die Reaktionen auf die ersten beiden Bände der Lyrikreihe sind
durchaus ermutigend. So schrieb die Kritikerin Daniela Strigl
über Siglinde Bolbechers in der Wiener Wochenzeitung „Die
Furche“ vom 11. April:

Besonders eindringlich wirkt die Knappbheit ihrer Gedichte jedoch
auf dem Gelände des Privaten, in dem die Spuren und Markierungen
paradoxerweise just durch die flüchtige Macht der Sinne gesichert
scheinen: „An mich kann ich! mich nicht erinnern, dich jedoch!
spüre ich wie jetzt.“ Bolbechers Liebesgedichte zeugen schmerzhafi¬
abgeklärt von Verwirrungen und Niederlagen, vom Ankommen im
glücklichen Augenblick und von den Aufbrüchen eines Ich, dem die
Nacht Zuhause ist: „Du stockbraver Tag mit deinen! geschliffenen
Ecken wäschst mich! scheitelst mich schickst mich! auf den Weg“.

Und der Hamburger Kritiker Jan Kuhlbrodt spricht von Texten,
„die in ihrer Dringlichkeit weit übers Persönliche hinaus reichen“.

Zu Besuch in Wien war im März T. Scarlett Epstein, deren Er¬
innerungen, „Es gibt einen Weg“, Ende 2012 in der Buchreihe
„anders erinnern“ erschienen sind. Das „Erich Fried Realgym¬
nasium“, 1090 Wien, Glasergasse, eröffnete am 20. März einen
„Gedenk-Ort an die 1938 vertriebenen Schülerinnen und Schüler“.
Trude Grünwald, wie Scarlett damals hieß, war eine von ihnen
und nun als Ehrengast geladen, hatte sie doch ein namentliches
Gedenken an die im April 1938 der Schule verwiesenen jüdischen
SchülerInnen vehement eingefordert. Sie sprach auch bei dem
Anlaß und meinte, sie könne dem heutigen Österreich und sei¬
ner Jugend vergeben, was ihr, ihrer Familie, ihren FreundInnen
angetan wurde, aber eines könne sie nicht: vergessen.
Konstantin Kaiser