Alexander Emanuely
Das Gedicht a la lettre
Wie fast jeden und jede Intellektuelle meiner Generation, der
sogenannten Generation X, beschäftigten mich schon immer
VorträumerInnen und -denkerInnen. Einer davon war seit meinem
siebzehnten Lebensjahr Guy Debord. Und so wie dieser eines
Tages, selbst noch ein siebzehnjahriger Gymnasiast, auf Isidore
Isou stieß, musste auch ich unweigerlich über diesen rumänischen
Buchstabendichter des Paris der späten 1940er-Jahre stolpern.
Von Saint Germain des Prés...
Guy Debord hatte Isou am 20. April 1951 in Cannes kennenge¬
lernt. Der Gymnasiast hatte sich in ein Kino, das Vox, es waren
gerade die Filmfestspiele, gesetzt und war Zeuge nicht nur von Isi¬
dore Isous Filmvorfiihrung von Traité de bave et d éternité, deutsch
Traktat von Geifer und Ewigkeit, sondern auch von den Hand¬
greiflichkeiten seitens eines empörten Publikums im Anschluss
an die Vorführung geworden. Trotz der allgemeinen Ablehnung
wurde der Film beim Festival mit einem Spezialpreis gewürdigt.”
Der Maturant war fasziniert und konnte nicht anders, als die
Schule und die elterliche Villa in Cannes verlassen und sich den
Lettristen in Paris anschließen. Diese Begeisterung ist im Zusam¬
menhang mit folgender Kritik des Autorenkollektivs zu Biene
Baumeister Zwi Negators erstaunlich, da sich Debord nicht mit
den Gründen und Folgen der Shoah, mit den Naziverbrechen,
mit Antisemitismus auseinandergesetzt habe:
[...] dem bürgerlichen Standpunkt, der vom Antisemitismus reden
und vom Kapitalismus schweigen will, nur seitenverkehrt ein soge¬
nannter „Klassenstandpunkt“ gegenüber, der nur vom Kapitalismus
redet und von „Auschwitz und Ähnlichem“ im Grunde schweigen
will. Damit verunmöglicht er sich aber das, was doch gerade von der
[Situationistischen Internationale] stets eingefordert worden war: das
gesamte Ausmaß der Niederlage der Revolution im 20. Jahrhundert
wahrzunehmen."
: Und Isou war Jude und nur knapp dem nationalsozialistischen
Terror entkommen, und ausgerechnet Isou, für den Auschwitz
sehr wohl ein zentrales Thema seines Denkens und seiner Kunst
war, sollte der Lehrmeister Debords werden. Manche Debord¬
BiographInnen sind sogar der Ansicht, dass sich ohne Guy Debord
wohl niemand mehr an Isidore Isou und die Lettristen erinnern
würde.’
Einer, der sich wohl noch schr gut an den „Messias“, als welchen
sich Isou verstand, erinnert, ist Stefan Georg Troller, der ungefähr
zur selben Zeit nach Paris kam wie Isou, wenngleich diesmal,
Ende der 1940er-Jahre, zum Studium und nicht wie knapp zehn
Jahre zuvor als Flüchtling.
Bei einem Treffen mit Troller fragte ich ihn, ob er Isidore Isou
kenne. Er reagierte mit großem Erstaunen und antwortete un¬
gefähr so:
Isou? Wie kommst du denn auf den? Mein Gott, den Namen habe
ich schon seit 30 Jahren nicht mehr gehört... Natürlich habe ich
ihn gekannt...!
Und dann erzählte er davon, wie er als Student in Paris eine
Zeit lang zur Gruppe um Isou, den Lettristen, gehörte, weniger
als aktives Mitglied, denn als einer, der die lettristischen Aktionen
mit großer Sympathie verfolgte.
Ich hatte ein schwarzes Hemd, einen dunklen Anzug, eine rosa
Krawatte und weifse Socken an.
Das Paris des Jahres 1950 war „voller heimatloser Kosmopoliten
auf der Suche nach ihrer Wesensform.“* Troller war damals knapp
29 und Isou knapp 26 Jahre alt.
Auch Georg Stefan Troller suchte nach seiner „Wesensform“
bzw. nach einem Leben nach dem Überleben. Er konnte sich
wenigstens, als chemaliger GI und frischgebackener US-Bürger,
auf das Fulbright-Programm stützen, studierte an der Sorbonne
Vergleichende Literaturwissenschaft. Dabei betrat er die Universität
nur einmal im Semester, um die „Studienkarte zu erneuern, zwecks
Anweisung der Dollars“. Denn viel wichtiger als ein Studium
war, zu den richtigen Kreisen zu gehören. Deren gab es am linken
Seineufer ungezählte. Troller in seiner Selbstbeschreibung:
Die Wahrheit zu sagen, ich verkehrte in überhaupt keinen Kreisen,
hatte höchstens ein paar lose Bekannte. Mit ihnen saß ich diskutierend
in der Bar Vert oder nebenan in der Jakobsleiter, beide in der Rue
Jacob. Oder ging um die Ecke ins Cafe Flore oder Deux Magots oder
Capoulade. Oder ins Rose Rouge zu Juliette Gréco oder den anderen
literarischen Chansonsängern. Sah dort Sartre und Beckett von fern.
Sah Ionesco von fern.’
Georg Stefan Troller wohnte im Hétel d’Orléans, 31, rue des
Ecoles, also mitten im Geschehen —im Nebenzimmer hatte zur
selben Zeit Paul Celan Quartier gefunden. Einige Gehminuten
vom Hotel befand sich, 22, rue du Four, das Chez Moineau, ein
illustres Lokal. Dort fand man jene Intellektuellen, die nichts
mit der von Troller beschriebenen Folklore von Saint-Germain
des Prés und der rive gauche zu tun haben wollten, wiewohl sie
fixer Bestandteil derselben waren. Hier traf man ewige Student¬
Innen, WesensformsucherInnen, genauso wie Knastbrüder auf
Bewährung, und Isidore Isou und seine AnhängerInnen.
Einer dieser Anhänger, ein Lettrist der ersten Minute, war der
in Wien geborene Komponist Max Deutsch. Er war um gute 30
Jahre älter als seine MitstreiterInnen und hatte nebst Studium
bei Arnold Schönberg und Filmkompositionen in den 1920er¬
Jahren — so die Filmmusik zu G.W. Papsts Die freudlose Gasse,
nach dem Roman von Hugo Bettauer — auch den Kampf als
Fremdenlegionar gegen Hitler hinter sich. Deutsch hatte dem
Pariser Publikum schon Mitte der 1920er-Jahre die Musikwelten
der Schönberg, Webern und Berg geöffnet. Nach dem Krieg
beeinflusste er als Kompositionslehrer viele Generationen von
MusikerInnen, darunter György Kurtäg.’ Es stimmt also nicht,
was kürzlich behauptet wurde, dass „die einzige bemerkenswerte
österreichisch-französische Begegnung im Avantgarde-Milieu“
eine Schlägerei zwischen Hundertwasser und Guy Debord im
Moineau gewesen sei.® Richtig scheint hingegen, dass niemand
mehr in Wien, außer ein paar FxilforscherInnen?, Max Deutsch,
den Avantgarde-Komponisten, kennen will.