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Sophie Zehetmayer Losung In der Trafik an der Ecke gibt es Lose und Trostlose. Dann noch Zigaretten, Fahrkarten und Geschenkpapier und Bier an einem Stand daneben. Jeden Dienstag schickt die Mutter das Kind, ihr ein Los zu kaufen. Die Mutter hofft darauf, ein Lotteriegewinn zu werden. Jeden Dienstag ziehen die Kinderbeine zwischen anderen Kundenbeinen hindurch. Der Kopf des Kindes ragt anfangs nicht über den Kassentresen, und der Verkäufer übergibt das Los und bekommt sein Geld von einem dunklen Haarschopf. Die Mutter reißt das Los immer in der Diele auf, wo das Telefon steht, um im Fall des Gewinns gleich jemanden anrufen zu können. Die Mutter schickt das Kind Woche um Woche, und die Kinderbeine zwischen den Kundenbeinen werden länger. Andere Kinder zichen einen Strich über ihr Haar an der Küchenwand und messen ihre Größe, das Kind zieht einen mentalen Strich am Kassentresen, bis dieser nicht mehr ausreicht, und das Kind darüber sehen kann, in das Gesicht des Verkäufers. Wann immer das Kind dienstags nicht vor Ladenschluss in die Trafik kommen kann, bleibt der Verkäufer ein wenig länger. Für solche Dienstage hat die Mutter die Telefonnummer der Trafık in der Schnellwahl eingespeichert, und ruft rechtzeitig an, um zu fragen, ob denn so spät noch Lose übrig sein werden, woraufhin der Verkäufer stets „Aber selbstverständlich, selbstverständlich“ antwortet und geschwind auflegt, bevor die Mutter noch weitere Fragen stellen kann. Die Mutter ist es bald gewohnt, keine weiteren Fragen zu stellen, und als der Verkäufer später einmal nicht schnell genug auflegt, herrscht für ein paar Sekunden unerträgliches Schweigen. Die Trafik trägt die Schnellwahlnummer vier, davor: die Apotheke, der Bruder der Mutter und die Blumenhandlung der Gemeinde. Die Blumenhandlung hat die Nummer drei, da die Mutter jeden Samstag anruft, um einen Strauß zu bestellen. Man braucht immer Blumen auf dem Tisch, sagt sie zum Kind, und das Kind nickt. Halten die Blumen nicht die ganze Woche, hat die Mutter an einem weiteren Tag anzurufen. Halten sie aber länger als eine Woche, ruft sie samstags dennoch an und bestellt einen weiteren. Man kann nie genügend Blumen im Haus haben, sagt sie dann zum Kind, während sie die Stiele zurechtschneidet und die passende Vase aussucht, und das Kind nickt und sagt nichts, so betäubt ist es vom Blumenduft und der Weisheit der Mutter. Und einmal im Monat bestellt sie zusätzlich zu ihrem Heimstrauß ein großes Gesteck und lässt es der Pfarre liefern, damit es am folgenden Tag während der Messe vor dem Altar steht, um von den Gemeindemitgliedern bestaunt zu werden. Die Mutter geht selbst nicht mehr zur Messe, dennoch möchte sie bestaunt werden. Der Bruder trägt die Nummer zwei, was er nicht weiß, da er nicht weiß, dass seine Schwester die Schnellwahlen verwendet. Er darf es auch nicht wissen, da er, wenn er es wüsste, die Nummer eins zu sein verlangte. Das kann die Mutter zwar nur behaupten, da sie es ihm nie gesagt, daher ihn nie gefragt hat, doch nimmt sie es an. Man kann keinem sagen, dass er nicht die Nummer eins ist, erst recht nicht der Familie, sagt sie zum Kind, und das Kind nickt und sagt nichts, da es versteht. Besser man sagt gar nichts, dann muss man nicht lügen, sagt die Mutter weiters. Dem Kind wird der Nacken steif vom vielen Verstehen. Mit ihrem Bruder telefoniert die Mutter zweimal wöchentlich, jeweils montags und donnerstags. Wann immer er sich etwas Neues gekauft hat, berichtet er ihr davon, und sie erzählt ihm, welche Farbe der aktuelle Blumenstrauß trägt. Danach fragt er, ob sie schon in der Lotterie gewonnen habe, was sie lachend verneint, um dann aufzulegen. Nach solchen Telefonaten schließt die Mutter die Augen und stellt sich vor, sie hätte sich soeben gekauft, wovon ihr Bruder erzählt hat, und bekommt Kopfschmerzen. Wenn das Kind die Mutter mit geschlossenen Augen sitzen sieht, muss es still sein, da sie ansonsten zu schreien beginnt. Das Kind hat schon viel verstanden; wie viel, lässt sich an der Steife des Nackens erkennen. Die Nummer eins hat also die Apotheke. Dort ruft die Mutter zwar nicht regelmäßig an, doch häufig genug, sodass die Taste schon abgegriffen und die Ziffer nur noch schwer lesbar ist. Die Telefonate mit der Apotheke führt die Mutter stets hinter geschlossener Türe, doch da das Kind schon einen steifen Nacken, somit genug verstanden hat, um etwas annehmen zu dürfen, nimmt es an, dass die Anrufe mit den Kopfschmerzen der Mutter in Zusammenhang stehen. Wann immer das Kind zum Supermarkt geht, um Lebensmittel zu besorgen, holt es am Rückweg bei der Apotheke, die nur einige Meter vom Supermarkt entfernt ist, die Bestellung der Mutter ab. Manchmal holt es sie schon am Hinweg, vor allem im Sommer, wenn es Eis oder Tiefgefrorenes zu besorgen hat. Wenn die Mutter innerhalb einer Woche häufiger als zweimal die Schnellwahl Nummer eins betätigt und die Türe schließt, wird sie oft laut am Telefon, doch auch dann geht das Kind beim nächsten Einkauf zur Apotheke und holt die Bestellung ab. Man muss zwar immer höflich bleiben, aber bestimmt sein, sonst wird einem nichts gegeben, sagt die Mutter zum Kind, und das Kind kann schon nicht mehr nicken, da der Nacken zu hart geworden ist, also schlägt es die Lider auf und ab. Ihre Bestellung öffnet die Mutter immer schon in der Diele und stellt sie dann neben das Telefon und die aufgerissenen Losumschläge, um sie parat zu haben für den Fall, dass ihr Bruder sich Neues gekauft hat. Auch für den Fall, dass das nächste Losaufreißen keinen Gewinn bringt, stellt sie es dort hin, denn auch dann setzen die Kopfschmerzen ein. Woche für Woche läuft das Kind zwischen der Trafık, dem Supermarkt und der Apotheke hin und her und nach Hause, wo es die Mutter am Telefon hört und ihr sogleich alle Besorgungen reicht. Die Kinderbeine sind mittlerweile ebenso lang wie die anderen Kundenbeine und reichen schon bis zur oberen Kante des Kassentresens, der Haarschopf befindet sich bereits weitaus höher, auf gleicher Höhe wie der des Verkäufers, darüber noch, da dieser zu sinken beginnt. Die Mutter muss immer häufiger laut werden, sobald sie die Schnellwahl der Apotheke gewählt hat, und greift daher auch nach diesen Telefonaten auf ihre letzte Bestellung auf dem Tisch zurück. Ebenso, wenn die Blumenhandlung ihr einen Strauß geliefert hat, dessen Farbe ihr nicht gefällt, da sie davon dann nicht einmal ihrem Bruder erzählen kann. September 2013 23