In der Trafik an der Ecke gibt es Lose und Trostlose. Dann noch
Zigaretten, Fahrkarten und Geschenkpapier und Bier an einem
Stand daneben. Jeden Dienstag schickt die Mutter das Kind, ihr
ein Los zu kaufen. Die Mutter hofft darauf, ein Lotteriegewinn zu
werden. Jeden Dienstag ziehen die Kinderbeine zwischen anderen
Kundenbeinen hindurch. Der Kopf des Kindes ragt anfangs nicht
über den Kassentresen, und der Verkäufer übergibt das Los und
bekommt sein Geld von einem dunklen Haarschopf. Die Mutter
reißt das Los immer in der Diele auf, wo das Telefon steht, um
im Fall des Gewinns gleich jemanden anrufen zu können. Die
Mutter schickt das Kind Woche um Woche, und die Kinderbeine
zwischen den Kundenbeinen werden länger. Andere Kinder zichen
einen Strich über ihr Haar an der Küchenwand und messen ihre
Größe, das Kind zieht einen mentalen Strich am Kassentresen, bis
dieser nicht mehr ausreicht, und das Kind darüber sehen kann,
in das Gesicht des Verkäufers. Wann immer das Kind dienstags
nicht vor Ladenschluss in die Trafik kommen kann, bleibt der
Verkäufer ein wenig länger. Für solche Dienstage hat die Mutter
die Telefonnummer der Trafık in der Schnellwahl eingespeichert,
und ruft rechtzeitig an, um zu fragen, ob denn so spät noch Lose
übrig sein werden, woraufhin der Verkäufer stets „Aber selbstver¬
ständlich, selbstverständlich“ antwortet und geschwind auflegt,
bevor die Mutter noch weitere Fragen stellen kann. Die Mutter
ist es bald gewohnt, keine weiteren Fragen zu stellen, und als der
Verkäufer später einmal nicht schnell genug auflegt, herrscht für
ein paar Sekunden unerträgliches Schweigen.
Die Trafik trägt die Schnellwahlnummer vier, davor: die Apo¬
theke, der Bruder der Mutter und die Blumenhandlung der Ge¬
Die Blumenhandlung hat die Nummer drei, da die Mutter jeden
Samstag anruft, um einen Strauß zu bestellen. Man braucht
immer Blumen auf dem Tisch, sagt sie zum Kind, und das
Kind nickt. Halten die Blumen nicht die ganze Woche, hat die
Mutter an einem weiteren Tag anzurufen. Halten sie aber länger
als eine Woche, ruft sie samstags dennoch an und bestellt einen
weiteren. Man kann nie genügend Blumen im Haus haben, sagt
sie dann zum Kind, während sie die Stiele zurechtschneidet
und die passende Vase aussucht, und das Kind nickt und sagt
nichts, so betäubt ist es vom Blumenduft und der Weisheit der
Mutter. Und einmal im Monat bestellt sie zusätzlich zu ihrem
Heimstrauß ein großes Gesteck und lässt es der Pfarre liefern,
damit es am folgenden Tag während der Messe vor dem Altar
steht, um von den Gemeindemitgliedern bestaunt zu werden.
Die Mutter geht selbst nicht mehr zur Messe, dennoch möchte
sie bestaunt werden.
Der Bruder trägt die Nummer zwei, was er nicht weiß, da er nicht
weiß, dass seine Schwester die Schnellwahlen verwendet. Er darf
es auch nicht wissen, da er, wenn er es wüsste, die Nummer eins
zu sein verlangte. Das kann die Mutter zwar nur behaupten, da
sie es ihm nie gesagt, daher ihn nie gefragt hat, doch nimmt sie
es an. Man kann keinem sagen, dass er nicht die Nummer eins
ist, erst recht nicht der Familie, sagt sie zum Kind, und das Kind
nickt und sagt nichts, da es versteht. Besser man sagt gar nichts,
dann muss man nicht lügen, sagt die Mutter weiters. Dem Kind
wird der Nacken steif vom vielen Verstehen.
Mit ihrem Bruder telefoniert die Mutter zweimal wöchentlich,
jeweils montags und donnerstags. Wann immer er sich etwas Neues
gekauft hat, berichtet er ihr davon, und sie erzählt ihm, welche
Farbe der aktuelle Blumenstrauß trägt. Danach fragt er, ob sie
schon in der Lotterie gewonnen habe, was sie lachend verneint,
um dann aufzulegen. Nach solchen Telefonaten schließt die Mutter
die Augen und stellt sich vor, sie hätte sich soeben gekauft, wovon
ihr Bruder erzählt hat, und bekommt Kopfschmerzen. Wenn das
Kind die Mutter mit geschlossenen Augen sitzen sieht, muss es still
sein, da sie ansonsten zu schreien beginnt. Das Kind hat schon viel
verstanden; wie viel, lässt sich an der Steife des Nackens erkennen.
Die Nummer eins hat also die Apotheke. Dort ruft die Mutter
zwar nicht regelmäßig an, doch häufig genug, sodass die Taste
schon abgegriffen und die Ziffer nur noch schwer lesbar ist. Die
Telefonate mit der Apotheke führt die Mutter stets hinter geschlos¬
sener Türe, doch da das Kind schon einen steifen Nacken, somit
genug verstanden hat, um etwas annehmen zu dürfen, nimmt
es an, dass die Anrufe mit den Kopfschmerzen der Mutter in
Zusammenhang stehen. Wann immer das Kind zum Supermarkt
geht, um Lebensmittel zu besorgen, holt es am Rückweg bei der
Apotheke, die nur einige Meter vom Supermarkt entfernt ist,
die Bestellung der Mutter ab. Manchmal holt es sie schon am
Hinweg, vor allem im Sommer, wenn es Eis oder Tiefgefrorenes
zu besorgen hat.
Wenn die Mutter innerhalb einer Woche häufiger als zweimal
die Schnellwahl Nummer eins betätigt und die Türe schließt,
wird sie oft laut am Telefon, doch auch dann geht das Kind beim
nächsten Einkauf zur Apotheke und holt die Bestellung ab. Man
muss zwar immer höflich bleiben, aber bestimmt sein, sonst wird
einem nichts gegeben, sagt die Mutter zum Kind, und das Kind
kann schon nicht mehr nicken, da der Nacken zu hart geworden
ist, also schlägt es die Lider auf und ab.
Ihre Bestellung öffnet die Mutter immer schon in der Diele
und stellt sie dann neben das Telefon und die aufgerissenen Lo¬
sumschläge, um sie parat zu haben für den Fall, dass ihr Bruder
sich Neues gekauft hat. Auch für den Fall, dass das nächste Lo¬
saufreißen keinen Gewinn bringt, stellt sie es dort hin, denn auch
dann setzen die Kopfschmerzen ein.
Woche für Woche läuft das Kind zwischen der Trafık, dem Su¬
permarkt und der Apotheke hin und her und nach Hause, wo
es die Mutter am Telefon hört und ihr sogleich alle Besorgungen
reicht. Die Kinderbeine sind mittlerweile ebenso lang wie die
anderen Kundenbeine und reichen schon bis zur oberen Kante des
Kassentresens, der Haarschopf befindet sich bereits weitaus höher,
auf gleicher Höhe wie der des Verkäufers, darüber noch, da dieser
zu sinken beginnt. Die Mutter muss immer häufiger laut werden,
sobald sie die Schnellwahl der Apotheke gewählt hat, und greift
daher auch nach diesen Telefonaten auf ihre letzte Bestellung auf
dem Tisch zurück. Ebenso, wenn die Blumenhandlung ihr einen
Strauß geliefert hat, dessen Farbe ihr nicht gefällt, da sie davon
dann nicht einmal ihrem Bruder erzählen kann.