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Konstantin Kaiser Das unsichtbare Kind Stella Rotenberg (1915 — 2013) Am 3. Juli 2013 ist Dr.h.c. Stella Rotenberg in Leeds gestorben. Sie wurde 2001 mit dem erstmals verliehenen Theodor Kramer Preis für Schreiben im Widerstand und im Exil ausgezeichnet und war Ehrenmitglied der Theodor Kramer Gesellschaft, in deren Verlag 1997 ihre gesammelte Prosa („Ungewissen Ursprungs“, hg. von Siglinde Bolbecher) und 2003 ihre gesammelten Gedichte („An den Quell“) erschienen sind. Derzeit unfähig, den Schmerz über den Tod der geliebten Dichterin in Worte zu fassen, will ich hierher fürs Erste meinen 1992 im „Aufbau“ (New York) erschienenen kleinen Aufsatz zu Stella Rotenberg in leicht veränderter Form setzen. 1991 hatten PrimusHeinz Kucher und Armin A. Wallas mit „Scherben sind endlicher Hort“ eine erste Auswahl von Rotenbergs Gedichten und Prosa in Österreich herausgebracht. Sie wurde 1915 in Wien geboren, jüdische Familie, in einer Sommerkolonie der Sozialistischen Mittelschüler lernte sie Jura Soyfer kennen. Zwei Jahre Medizinstudium, dann Flucht nach Holland, dann England. „Mir ist ja kein Ort verlorengegangen, sondern eine Entwicklung — und eine Generation“, schrieb sie in ihrer Selbstdarstellung mit dem Titel „Ungewissen Ursprungs“. Sie arbeitete in einer Nervenheilanstalt, als Apothekergchilfin, Buchhalterin. 1940 heiratete sie einen Flüchtling aus Wien. 1942 werden ihre Eltern aus Wien ins Generalgouvernement deportiert. (Alles weitere ist Vermutung und doch gewiß). Seit 1948 lebte sie mit ihrem Mann in Leeds. Stella Rotenberg fand keinen Kontakt zu den österreichischen oder deutschen Exilgruppen. Sie war, könnte man sagen, selbst innerhalb des Exils noch im Exil. Mit ihrem aufgeklärten politischen Denken hätte sie nicht für sich zu bleiben brauchen; die Ilusionslosigkeit freilich, die aus ihren Schriften spricht, wäre nicht auf ungeteilte Zustimmung gestoßen. Als Stella Rotenberg im November 1991 in Wien ihr Buch „Scherben sind endlicher Hort“ vorstellte, war es das erste Mal in ihrem Leben, daß sie in der Stadt, in der sie geboren und aus der sie vertrieben wurde, ihre Gedichte las. Das Buch ist in der Reihe „Antifaschistische Literatur und Exilliteratur — Studien und Texte“ erschienen. Die Buchreihe will einen Dialog mit der Literatur des Exils und des Widerstands ermöglichen, nicht nur ein Gespräch der Lebenden und der Toten, wie alle Literatur, sondern ist ebenso auch ein Versuch, die tiefe Kluft, die die Welt der Lebenden durchzieht, sprechend zu überwinden. Diese Kluft ist mit dem Jahr 1938 zur vollendeten Tatsache geworden, dem Jahr, in dem sich die österreichische Literatur in eine Literatur im Reich und im Exil gespalten hat. Was immer seitdem geschehen ist, es ist, bewußt und unbewußt, gewollt und ungewollt, durch diese Spaltung mitbedingt. Im Dialog mit einem nach wie vor existierenden, lebenden, schreibenden, leidenden literarischen Exil besteht dennoch keine Absicht, irgendjemanden heimholen, wieder ‚heimisch‘ machen zu wollen: unaufhebbar die Position des Exils, sie muß anerkannt werden. Kein literarischer Wettbewerb, keine Tagung, kein Symposium, keine Lesung, von wem und zu welchem Thema auch immer, sollte stattfinden, bei dem nicht Autorinnen und Autoren des Exils eingeladen sind, bei dem nicht zu Unrecht vergessener Autorinnen und Autoren des Exils gedacht wird. Erst dann wäre die Ghettosituation, in der sich jede Veranstaltung zur Exilliteratur heute befindet, wirklich überwunden. Erst dann wird unsere Literatur aufhören, die Würgemale einer „Literatur im Reich“ zu tragen. Was es bedeutet, im Exil zu schreiben, sagt Stella Rotenberg selbst am besten, schlicht und eindringlich, wie ihre Freunde es von ihr gewohnt sind: Ich habe in England immer nur in der Provinz gelebt, keinen Kontakt zu deutschsprachigen Autoren gehabt, und für lange Zeit niemandem meine Gedichte angeboten. Ich scheute mich davor, Verbindung mit österreichischen oder deutschen Verlagen aufzunehmen. Im Jahr 1971 erfuhr ich von einem Verleger in Tel-Aviv, der deutsch druckt (es war der 1895 in Wien geborene Historiker Dr. Hugo Gold); ihm schickte ich ein Manuskript von Gedichten, die er 1972 veröffentlichte. Als dann einige Zeitschriften in Österreich und Deutschland Gedichte aus dem Band abdruckten, schickte ich ein weiteres Manuskript September 2013 43