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REZENSIONEN Zunächst glaubt man, Zdenka Beckers Roman „Der größte Fall meines Vaters“ sei eine Geschichte über das Altwerden: Die ersten Seiten handeln von einer Tochter, die ihren greisen Vater pflegt. Schnell aber bemerkt der Leser, dass die Geschichte eine andere Richtung einschlägt: Teodor Mudroch, der Vater, war Polizeipräsident und ermutigt nun seine Tochter Lara, eine Schriftstellerin, ein Buch über seinen größten (Mord-)Fall zu schreiben. Zunächst wehrt sich die Protagonistin: Sie war damals gerade in der Pubertät und weiß zu wenig über die Sache. Doch der alte Vater und sein früherer Assistent geben keine Ruhe — die Vergangenheit wird aufgerollt, die brutale Mordgeschichte, die sich in der kommunistischen Tschechoslowakei der 1960er ereignet hat, wird erzählt. In einer Zugtoilette wird der abgetrennte Kopf eines Mannes entdeckt. Teodor Mudroch, der sich sonst nur um kleinere Delikte kümmert, soll den Mord aufklären. (Er ahnt nicht, dass dieser Fall ihn zum Polizeipräsidenten befördern wird.) Die Spur führt zu einer verwahrlosten Frau, die ihren Lebensgefährten, einen Säufer, ermordet hat. Seinen Körper hat sie verbrannt. Bald kommt auch heraus, dass die Frau keine Einzeltat begangen hat. Auch ihren Ehemann hat sie Jahre zuvor umgebracht. Die Geschichte hat eine historische Vorlage: Irena Cubirkovä hat auf ähnliche Weise ihre zwei Partner (1951 und 1964) umgebracht. Sie war die erste Frau, die nach 1945 zum Tode verurteilt wurde. Die Autorin Zdenka Becker, die seit 1975 in Österreich lebt und zuvor den Kommunismus in der Slowakei erlebt hat, hat sich weitgehend an die Fakten gehalten. Es ist ihr gelungen, den Stoff zu verarbeiten, ohne dabei der Erzählung oder der Sprache Raum zu nehmen. Letztere ist präzise und bildhaft. Damit drückt Becker dieser brutalen Geschichte ihren ganz eigenen Stempel auf. Es ist eine Sprache, mit der die Autorin bereits in vorangehenden Werken („Die Töchter der Röza Bukovskä“, Residenz; „Taubenflug“, Picus) überzeugen konnte. Das macht es schwierig, diesen Roman als Krimi zu bezeichnen: Es gibt nur wenige Krimis von solch literarischer Feinfühligkeit. Theoretisch aber ist die Zuschreibung nicht In der Reihe „Edition Shoäh & Judaica/Jewish Studies“ des Hartung-Gorre Verlags Konstanz werden seit 1984 unter der Leitung des Soziologen und Historikers Erhard Roy Wiehn Studien zur jüdischen Geschichte der Ukraineund Rumäniens publiziert, vorallem aber Autobiographien und Biographien von Überlebenden der Schoa. Zvi Harry Likworniks autobiographischer Bericht überschreitet an keiner Stelle die Grenze zur Fiktion. Das Buch ist dem Mut des Autors entsprungen, seine persönliche Erinnerungsarbeit zu veröffentlichen: Nach Jahrzehnten der überlebensnotwendigen Verdrängung hatte sich die schmerzhafte Erinnerungslast mit Gewalt wieder einen Weg ins Bewusstsein gebahnt und den Autor dazu bewogen, die traumatisierenden Kindheitserfahrungen in einem Todesghetto in Transnistrien, die schweren Jahre nach Kriegsende, den gefahrvollen Neuanfang der Familie im damaligen Jungstaat Israel öffentlich mitzuteilen. Die Originalausgabe erschien 2011 aufHebräisch und wurde von Galia Ben Tov ins Deutsche, der eigentlichen Muttersprache, nämlich der Sprache der Mutter des Autors, übersetzt. Likwornik wurde 1934 als Sohn der Dora Katz und des Willy Zeev Likwornik in Czernowitz geboren, wo er mitseinemälteren Bruder Manfred Elimelech ein materiell bescheidenes, aber behütetes Familienleben in nicht-orthodoxer jüdischer Tradition genoss. Die dramatische Zäsur in seinem Leben erfolgte im Sommer 1941, als deutsche Wehrmacht und rumänische Faschisten Czernowitz und die Nordbukowina besetzten. 46 ZWISCHENWELT Mehrals 50.000 Juden und Jüdinnen wurden am 11. Oktober 1941 in das Czernowitzer Ghetto gesperrt, unter ihnen auch der damals siebenjährige Zvi Harry Likwornik und seine Familie. Es begannen die mörderischen Deportationen der rumänischen und ukrainischen Juden und Jüdinnen sowie der Angehörigen der RomaMinderheit in das künstlich eingerichtete rumänische Verwaltungsgebiet Transnistrien im Südwesten der Ukraine. Aufeinem Todesmarsch gelangte die Familie Likwornik in das Ghetto der ukrainischen Kleinstadt Berschad, wo katastrophale Existenzbedingungen herrschten. Noch im ersten Winter der furchtbaren Gefangenschaft brach der Vater in Gegenwart Zvi Harrys tot zusammen. Bis zur Befreiung durch die Rote Armee 1944 musste Zvi Harry die Rolle des Versorgers übernehmen, zumal Mutter und Bruder gesundheitlich schwer angeschlagen waren. Dem entbehrungsreichen Rückweg der Familie nach Czernowitz folgten der Schock über die ausgeraubte Wohnung und ein Leben in völliger Mittellosigkeit. Die nordostrumänische Stadt Iasi wurde die nächste Zwischenstation der Familie, die sich dort dem HaSchomer HaZair anschloss und in einem mühevollen bürokratischen Hürdenlaufdie Genehmigung zur Ausreise nach Israel erlangte. Nach einem monatelangen beschwerlichen Aufenthalt in einem zypriotischen Internierungslager konnten der Autor und seine Familie 1948 endlich in Israel einreisen. Der Neuanfang gestaltete sich hart; bis die erste Ein-Zimmer-Wohnung in Jaffa gefunden falsch. Der Roman mit seiner realen Vorlage kann als True-Crime-Fiction bezeichnet werden. Die Morde dominieren zwar in diesem Buch, es geht aber um mehr: Um den Kommunismus, die Verbrechen in einer verrohten Gesellschaft, um Frauen- und Männerrollenbilder. Und natürlich auch um das Leben in der Familie: um Tochter-Eltern-Beziehungen, um Erziehung, um Erwachsenwerden. Gerade in den Familienszenen trifft Becker den richtigen Ton. Sie erzeugt eine ungemeine Vertrautheit zwischen Vater und Tochter und macht das distanzierte Verhältnis zur Mutter spürbar. Diese Passagen über das Familienleben, die parallel zum Leben der Mörderin erzählt werden, machen deutlich, dass es in dieser Gesellschaft selten eine wirklich heile Welt gab. Untreue und häusliche Gewalt: Verdachtsmomente gibt es auch in Laras und Teodors Familie. Emily Walton Zdenka Becker: Der grofste Fall meines Vaters. Wien: Paul Zsolnay 2013. 224 S. Euro 19,50 werden konnte, lebte Zvi Harry mit seiner Mutter in verschiedenen ImmigrantInnenlagern in ärmlichen Verhältnissen. Zvi Harry musste früh zu arbeiten beginnen, um für sich und seine Mutter zu sorgen. Er verlor im Holocaust seine Kindheit, den Vater, seine geliebte Tante und andere Verwandte; die Verfolgungen raubten ihm zudem das Grundrecht auf Bildung, die Möglichkeit, sich als Kind und Jugendlicher zu entfalten und persönliche Perspektiven zu gewinnen. Dank seines Selbstbehauptungswillens und seiner Neugier nahm er als Jugendlicher wissbegierig alles Neue in seiner Umgebung auf- allem voran die hebräische Sprache, die er sich zu großen Teilen selbst beibrachte. Likworniks Bericht besticht durch den ehrlichen Blick des Autors, der den LeserInnen auch problematische Erfahrungen mitteilt; er erzählt vom fehlenden Verständnis, der Unterstützungsverweigerung von Familienmitgliedern mütterlicherseits ebenso wie von der schwierigen Situation der Schoa-Überlebenden, denen von der bereits ansässigen Bevölkerung des neuen Staates Israel kaum Interesse oder Anteilnahme wiederfuhr. Judith Aistleitner Zvi Harry Likwornik: Als Siebenjähriger im Holocaust. Nach den Ghettos von Czernowitz und Berschad in Transnistrien ein neues Leben in Israel 1934-1948-2012. Hg. von Erhard Roy Wiehn. Konstanz: Hartung-Gorre 2012. 210 S. Euro 18,