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über den Orient, deshalb zeigte Zweig keine Begeisterung dafür,
deshalb hat bei ihm der Orient so wenig literarische Früchte ge¬
tragen (die berühmte Novelle Amok, zwei Legenden und einige
unbedeutende Miniaturen). Die Neue Welt war noch etwas Unge¬
fähres, Vages, aber auch Vielschichtiges — er merkte: Zentralame¬
rika unterschied sich grundlegend von Nordamerika. Literarisch
war die Reise nicht einträglich. Aber 17 Jahre später, Ende der
1920er Jahre, als die Alte Welt anfıng, auseinanderzufallen, weiß
Zweig auf Grund seines intuitiven Scharfsinns: Amerika ist keine
Einheit, kein Kontinent, nicht einmal eine Hemisphäre.

In einem Brief vom Oktober 1928 an den argentinisch-schwei¬
zerischen Freund Alfredo Cahn trifft Zweig eine klare und uner¬
wartete Entscheidung für einen Teil der Neuen Welt: Südamerika,
vor allem Argentinien und Brasilien. Dieser Brief ist von großer
Wichtigkeit und stellt einen Wendepunkt in Zweigs Leben dar.
Möglicherweise eröffnete ihm Hermann Graf von Keyserling,
den er schr bewunderte und mit dem er korrespondierte, tiefere
Einblicke. Sicher ist, dass sich Zweig vier Jahre später, im Dezember
1932, abermals an Cahn wendet, mit der Bitte, er solle ihm eine
Zeppelinreise nach Brasilien und Argentinien organisieren. Man
merkt: Er hat einiges gelesen und geforscht, hat einen konkreten
Plan und möchte ihn durchführen. Graf Keyserling wurde von
ihm ausdrücklich als Autor der Südamerikanischen Meditationen
zitiert, einem Buch, das Zweig sehr beeindruckt hat. Aber Zweig
drückt auch klar seine Abneigung gegen die nordamerikanische
„prosperity“ und die Bevorzugung eines Territoriums aus, wel¬
ches sozusagen eine Verlängerung des europäischen Humanismus
darstellen sollte. Weder der sowjetische noch der amerikanische
Materialismus interessieren ihn, ungleich der Mehrheit der Intel¬
lektuellen und Künstler seiner Zeit. Er wollte etwas Rustikaleres,
Natürlicheres, Wahrheitsnahes.

Das Datum des Briefes an Cahn weist darauf hin, warum diese
Reise nicht zustande kommt: Vorweihnachtszeit des Jahres 1932.
In 31 Tagen sollte Hitler in Deutschland die Macht ergreifen.
Vor dem Anfang der Katastrophe hatte Zweig bereits nach einer
Alternative gesucht. Er hatte gerade mit seiner Biografie der Marie
Antoinette die Fehler der Französischen Revolution beschrieben
und spürte das Erdbeben, das im Anrollen war. Seine Verzweif¬
lung hat er im Tagebuch beschrieben. In der wunderschönen und
anscheinend sicheren Stadt Salzburg ahnte er, dass die Lösung
vielleicht bei den Antipoden lag. Nichts war zu „weit entfernt“
für Zweig.

Erst wollte er seine Pflicht in Buenos Aires tun und sich da¬
nach von Brasilien verzaubern lassen, wie es übrigens die meisten
Kongressteilnehmer taten. Aber er vertauschte die Reihenfolge,
was nichts änderte: Der Argentinien-Aufenthalt konnte trotz der
politischen Gespräche seine starken Gefühle für Brasilien nicht
zerstören. Der Presse in Rio verkündete er prophetisch, er wolle
in Europa ein Botschafter der brasilianischen Sache werden - er
benutzte dafür das französische Wort camelot, ein „Hiegender
Händler“. 77 Jahre später stehen wir Brasilianer dort, wo wir
sind, weil Zweig sein Versprechen eingelöst hat.

Er fuhr nach London, löste sein Haus am Kapuzinerberg und
seine Ehe mit Friderike auf. Als Österreich 1938 von Deutschland
verschluckt wurde und verschwand, wurde Zweig zum staatenlosen
Bürger. Dies erschreckte ihn und zuerst versuchte er, die brasili¬
anische Staatsbürgerschaft zu erlangen. Gleichzeitig versuchte er
aber auch, die britische zu bekommen. Die brasilianische Regie¬
rung machte noch keine Schwierigkeiten — trotz des gegen die
Einwanderung von Flüchtlingen gerichteten Verbots —, aber er

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hätte nach Brasilien reisen müssen, um seinen Eid zu leisten. So
zog Zweig es vor, auf den englischen Pass zu warten.

Mit dem Vormarsch der Nazitruppen im Juni 1940 kommt
Zweig zum zweiten Mal nach Brasilien. Er hat sich mit Lotte
Altmann neu vermählt und ein wunderschönes Haus in Bath
gekauft, fühlt sich jedoch unsicher, denn die Wehrmacht steht auf
der anderen Seite des Ärmelkanals. In seinem Tagebuch erscheint
schon wieder die verzweifelte Frage: Wohin? Am Tag, nachdem
Winston Churchillam 19. Juni in einer berühmten Rede England
„bessere Tage“ versprochen hat, schiffen sich Stefan und Lotte via
New York nach Brasilien ein.

Der offizielle Grund war eine Vorlesungsreise durch Lateinameri¬
ka, aber in erster Linie wollte Zweig Material fiir das versprochene
Brasilienbuch sammeln. Die Tournee fand nur in Argentinien
statt, mit Stopp in Uruguay. In Buenos Aires hatten Stefan und
Lotte Zweig ein wichtiges — heimliches — Vorhaben: das definitive,
das permanente Visum im brasilianischen Konsulat zu erlangen.
Zweig war nun auf sicherem Boden und brauchte nicht mehr die
Frage „Wohin?“ zu wiederholen. Endlich hatte er eine Bleibe, wo
er sich niederlassen konnte.

Zweig blieb fünf Monate in Brasilien, bereiste einen kleinen
Teil des Landes, tauchte aber tief in die Geschichte des Landes
ein. Um das Brasilien-Produkt verkaufen zu können, musste er
es auch gut kennenlernen und verstehen. Er fing noch in Rio zu
schreiben an, aber der Großteil wurde in New Haven, in den
USA geschrieben, wo er Zugang zur umfangreichen Bibliothek
der Universität Yale fand. Er bemühte sich peinlich darum, keine
Fehler zu begehen, und von Anfang an plante er eine internati¬
onale Ausgabe seines Buches. Er wollte zeigen, dass es ein Land
gab, das ihm Frieden und Harmonie bedeutete.

Mitten im Zweiten Weltkrieg — 1941 — bekämpft Zweig seine
Depression und organisiert praktisch zur gleichen Zeit die Veröf¬
fentlichung der brasilianischen, portugiesischen, amerikanischen,
deutschen und schwedischen Ausgaben. Die französische und
die spanische Ausgabe kommen gleich danach — Anfang 1942 —
heraus. Eine verlagstechnische Meisterleistung, ein Wunder an
Zähigkeit. Ein letztes Aufbäumen seiner Vitalität.

Bis zum Ende blieb Zweig unschlüssig, wie denn der Buchtitel
lauten sollte. Es war schwer, etwas Unkonventionelles zu finden.
In manchen Verträgen ist ein provisorischer Buchtitel eingetragen.
Zum Schluss kam der Vorschlag von dem englischen Übersetzer
James Stern, alias Andrew St. James, der in New York lebte. Stern
fand den endgültigen Titel in dem französischen Zitat, das Zweig
sich ausgesucht hatte: une terre d’avenir. Sein eigener Text steckte
voll von Anspielungen an die Zukunft, aber das hatte er nicht
bemerkt. Leider war das schöne Zitat einem Brief entnommen,
den der Graf Prokesch-Osten, österreichischer Botschafter am
Hofe des brasilianischen Kaisers Pedro II, an einen französischen
Diplomaten geschickt hatte, um ihn für den Botschafterposten
in Rio zu begeistern. Zweig hatte nicht darauf geachtet, dass der
Empfänger des Briefes der berüchtigte Joseph-Arthur Gobineau
war, der Erfinder des modernen Rassismus, die Gallionsfigur der
französischen Konservativen und der Vichy-Regierung.

Das Zitat wurde in New York von einem antifaschistischen Verlag
kurzerhand aus der französischen Ausgabe gestrichen. Bis heute
weiß der französische Leser nicht, dass der schöne Buchtitel „Land
der Zukunft“ dem verhassten Gobineau zu verdanken ist. In den
posthumen brasilianischen Ausgaben sowie in der argentinischen
wurde das Zitat ebenfalls gestrichen.

Das Buch war fertig, aber da drängte sich schon wieder diese