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die mit ihrer Familie in Budapest bleibt. Nach einem kurzen Aufenthalt in Lissabon — wo er, wie er später schildern wird, an der portugiesischen Aussprache schier verzweifelt — setzt Rönai nach Brasilien über, wo er im März 1941 ankommt. Schon wenige Wochen später findet er in Rio de Janeiro eine Anstellung als Lehrer und stürzt sich in Aktivitäten. Damit einher geht ein konsequent vollzogener Eintritt in die portugiesische Sprache: Auch die bislang auf Französisch geführte Korrespondenz mit Rui Ribeiro Couto wird nun auf Portugiesisch gehalten — anfangs noch mit einigen Fehlern, dann zuschends flüssiger und geschliffener. Das Verlassen eines geographischen Raums geht also unbedingt mit dem Verlassen eines Sprachraums einher. So führt Rönai schon als Student während seiner Reise nach Paris, wo er einen Studienaufenthalt an der Sorbonne absolviert, sein Tagebuch auf Französisch weiter, kaum dass die ungarische Grenze hinter ihm liegt. Trotz seiner großen Bemühungen, sich möglichst schnell und möglichst intensiv eine berufliche Existenz in Rio de Janeiro aufzubauen und die neue Lebenswirklichkeit als die nun gegebene anzunehmen — was ihm durchaus gelingt —, sind die ersten Jahre in Brasilien keine leichten. Wie bei vielen anderen Exilanten, die Zeugnis über ihre Lage abgegeben haben, wird auch in den Briefen Rönais an seinen Freund Couto deutlich, wie quälend die Sorge um seine Familie und um Magdalena Peter, die er 1942 per Ferntrauung geheiratet hatte, für ihn ist und wie schwer ihm dadurch der Neuanfang bisweilen fällt. Auch hier ist es wieder die unermüdliche Arbeit und die Auseinandersetzung mit der Literatur, die ihm Ablenkung und Stabilisierung zugleich sind. „Ich arbeite unentwegt, aber ich lebe nicht“, schreibt er im Mai 1945. „Seit über vier Jahren versuche ich krampfhaft, die Hoffnung nicht zu verlieren.“ Wenige Monate später muss Rönai erfahren, dass Magdalena und ihre Mutter noch im Januar des letzten Kriegsjahres von der Gestapo in ihrem Versteck in einem Haus auf der Budaer Seite der Stadt aufgespürt und wenige Tage später ermordet worden sind. Die schreckliche Nachricht wird ihm durch einen Brief seines Schwagers zuteil, der ihm allerdings auch berichten kann, dass Rönais nächste Familienangehörige überlebt haben. Als sich Rönai seinem Freund Couto anvertraut, verzichtet er zunächst aufeigene Worte. Stattdessen übersetzt er den Brief seines Schwagers ins Portugiesische — womöglich ein Versuch, sich von der Schilderung emotional zu distanzieren. Rönai bleibt in all seinen Briefen immer äußerst sachlich, höflich und überaus bescheiden; Gefühlsregungen sind, wenn überhaupt, nur zwischen den Zeilen zu lesen. Doch in Folge dieser letzten, schrecklichen Nachricht aus Budapest bricht sich seine Verzweiflung Bahn: Ich will Dir nun nicht von meinen Gefühlen erzählen, denn sie bedürfen keiner Erläuterung: völlige Verzweiflung, unablässige Selbstvorwiirfe, weil ich nicht mehr für die getan habe, die mich liebten und mir blind vertrauten. [...] Ohne Zögern würde ich mein leeres und sinnloses Leben hier und jetzt beenden. Ich willnichts mehr, und ich erhoffe mir auch nichts mehr. (Übersetzung des Verf.) Im Laufe der Jahre wird die Korrespondenz zwischen Rönai und Couto, der 1963 stirbt, spärlicher. Somit sind es überwiegend die Publikationen und Aktivitäten Rönais, die Aufschluss darüber geben, wie intensiv er in Brasilien seine übersetzerischen und philologischen Tätigkeiten weiter vorantrieb und sich nach wie vor in der Pflicht sah, durch die Literatur zur Annäherung unterschiedlicher Kulturen beizutragen. Er übersetzt unablässig - sei es aus dem Portugiesischen ins Ungarische, aus dem Ungarischen ins Portugiesische oder aus dem Portugiesischen ins Französische. Er editiert die Gesamtausgabe der Comedie Humaine von Balzac; seine Studie Balzac ea Comedia Humana wird bereits 1946 von der brasilianischen Literaturakademie mit einem Preis ausgezeichnet. Zusammen mit der Dichterin Cecilia Meireles erarbeitet er 1953 die brasilianische Ausgabe der Briefe an einen jungen Dichter von Rilke; seiner Übertragung des ungarischen Kinderbuchklassikers A Pal-utcai fink von Ferenc Molnär ist es zu verdanken, dass der Roman in den Kanon der brasilianischen Jugendliteratur eingegangen ist. Ebenfalls in den 1950er-Jahren veröffentlicht er zwei Anthologien ungarischer Erzählungen; für die zweite, Antologia do conto hüngaro, schreibt kein Geringerer ein Vorwort als der große Joäo Guimaräes Rosa, für dessen Erzählbände Rönai zahlreiche Essays und Kommentare verfasst. Rosa ist voll des Lobes für Rönai und dessen Verständnis für seine sprachlich durchaus komplexen Texte; einige Male weist er seine Übersetzer in der Diskussion von translatologischen Problemen auf die Arbeiten Rönais hin. Über gut zwanzig Jahre erstreckt sich die Zusammenarbeit Paulo Rönais mit Aurelio Buarque de Holanda, mit der er die Reihe Mar de histörias („Meer von Geschichten“) konzipiert, in welcher Hunderte von Kurzgeschichten aus den verschiedensten Literaturen zusammengetragen werden. Alle Texte werden von Rönai und Holanda ins Portugiesische übersetzt; nur in wenigen Fällen werden Übertragungen in eine dritte Sprache zu Rate gezogen. Nicht zuletzt beschäftigt sich Rönai auch aus wissenschaftlicher Sicht mit der Übersetzung: So in der 1952 erstmals erschienenen Escola de tradutores („Übersetzerschule“) und in einem im Alter verfassten Band, welcher den schönen und auf Rönai so zutreffenden Titel A iradugo vivida („Die gelebte Übersetzung“) trägt. Lebensleistung und Übersetzerleistung sind bei Rönai zwei kaum zu trennende Größen - als ein passionierter Leser, Lehrer und Lerner, der auf vielfältigen Wegen, vor allem aber durch die Übersetzung, einer sich selbst auferlegten Verpflichtung nachkam, die er in einem Brief an Rui Ribeiro Couto als die „Annäherung der Völker“ bezeichnete. Über die Größe dieser Aufgabe und mit Sicherheit auch aufgrund der Unablässigkeit, mit der er dieser Aufgabe Zeit seines Lebens so gründlich wie leidenschaftlich nachkam, und nicht zuletzt auch aus der ihm eigenen humorvollen Bescheidenheit heraus mag er es nie für nötig erachtet haben, sein eigenes schweres Schicksal öffentlich darzulegen. Rönai hat vielen Lesern die Tür zu den Werken anderer geöffnet, sich selbst in dieser nicht genug zu schätzenden Rolle aber niemals in den Mittelpunkt gestellt. Es liegt nun an uns, uns an Rönai nicht nur als Studiosus und Übersetzer zu erinnern, sondern auch als den Menschen, dem es gelang, aus dem schmerzhaften Prozess von Heimatverlust und Neubeginn ein enormes Potential zu ziehen — ein Potential wiederum, dass es nicht darauf anlegte, individuelle traumatische Erfahrung zu verarbeiten, sondern darauf, (mit)geteilt zu werden. Heike Muranyi, geb. 1980 in Bonn, studierte Lusitanistik, Anglistik und Komparatistik in Wien und Leipzig. Sie schrieb ihre Magisterarbeit zu „Viva o povo brasileiro“ von Jodo Ubaldo Ribeiro. 2011 promovierte sie an der Universität Potsdam mit einer Arbeit über „Brasilien als insularer Raum. Literarische Bewegungsfiguren im 19. und 20. Jahrhundert“. Seit August 2010 ist sie Lektorin des DAAD an der Universidade Federal de Minas Gerais (UFMG) in Belo Horizonte. Dezember 2013 53