Der griechische Medizinstudent Theon Spanudis entdeckte im
Wien der 1930er- und 1940er-Jahre für sich die Psychoanalyse
und den Surrealismus. Seine Geschichte erzählt von Parallelwel¬
ten und Widerstand, von Hoffnungen und Enttäuschungen. In
Wien ist Theon Spanudis weitgehend in Vergessenheit geraten,
in Brasilien wurde er berühmt.
Die Vorgeschichte oder der surrealistische Plan
In den ersten Jahren nach der Befreiung 1945 standen viele In¬
tellektuelle in Österreich unter direktem Einfluss des in Paris
schon leicht überholt wirkenden, gleichzeitig noch immer starke
Lebenszeichen von sich gebenden Surrealismus. Hinzu kam, dass
die Verbreitung des Surrealismus in Österreich von Beamten und
Offizieren der französischen Besatzungsmacht gefördert wurde.
Viele von ihnen hatten zuvor in der Resistance gekämpft, Seitean
Seite mit jungen und alten SurrealistInnen und mit den Gedichten
Louis Aragons, Paul Eluards, Henri Michaux’ im Gepäck. Da
gab es den 26-jährigen Dichter, Germanisten und Oberleutnant
Rene Ferriot, der zum Kreis der Lyoneser Widerstandszeitschrift
„Confluences“ um Rene Tavernier gehört hatte. Im vierten Heft
der Zeitschrift „Plan“ erschien von ihm im Februar 1946 der
Beitrag „Junge Dichtung in Frankreich“. In ihm schrieb er über
den Surrealismus, dass er „in der Wirkung ungefähr vergleich¬
bar dem Zustand [sei], in welchem ein Mensch bisweilen nach
plötzlichem Erwachen eine neue und wirkliche Welt erblickt".
Und viele, in Wien der Kreis um die Zeitschrift „Plan“, wollten
die Befreiung als „plötzliches Erwachen“ aus der erlebten und
falschen Welt des nationalsozialistischen Terrors sehen. Für sie
war der Surrealismus der Verkünder dieser Befreiung.
Die Verantwortlichen und hohen Funktionäre der französi¬
schen Militärverwaltung — so vor allem Marcel Ray, der Chef der
direction d'information, des französischen Informationsdienstes
in Wien, vormals mit Adolf Loos und Karl Kraus, mit George
Grosz und Carl Einstein befreundet, einer der wichtigen Köpfe
der Résistancegruppe Combat — stellten ihre Zeitschriften wie
„Wort und Tat“ oder die „Europäische Rundschau“ der Verbrei¬
tung surrealistischer Literatur und Kunst zur Verfügung. Die
meines Erachtens wichtigste Zeitschrift im Nachkriegswien, Otto
Basils „Plan“, sollte jedoch von 1945 bis 1948 die Drehscheibe
des Surrealismus in Österreich werden. Und auch diese wurde
wohlwollend von den Franzosen unterstützt, sei es, indem sie deren
AutorInnen förderten, sei es durch Zulieferung von Beiträgen, sei
es wohl auch bei der schwierig zu bewerkstelligenden Zuteilung
der Mangelware Papier.
„Plan“ und Surrealismus haben eine gemeinsame Vorgeschichte,
denn Otto Basil hatte nicht erst im Oktober 1945 begonnen,
eine Zeitschrift dieses Namens herauszugeben, sondern schon im
Jänner 1938?. Gemeinsam mit den Schriftstellern und Dichtern
Franz Theodor Csokor, Rudolf Geist, Heinz Politzer, Emil Szit¬
tya, Johannes Urzidil und Theodor Kramer, so unterschiedlichen
Architekten wie Franz Schacherl und Herbert Eichholzer, den
KünstlerInnen Edgar Jene, Grete Freist, Axl Leskoschek, Anna
Mahler, Rudolf Pointner, Gottfried Goebel und einigen anderen
hatte er schon einmal „kämpferische Kunsthefte“ namens „Plan“
produziert, meiner Vermutung nach in Anlehnung an Philippe
Lamours Zeitschrift „plans“, welche in Paris Anfang der 1930er¬
Jahre erschienen war und deren wichtigster Autor Le Corbusier,
Herbert Eichholzers Lehrmeister aus Pariser Zeiten, gewesen ist.
Die Wiener Monatszeitschrift hatte 1938 drei Ausgaben erlebt,
die letzte, die März-Ausgabe, war jedoch vor ihrem Vertrieb von
der „Pressepolizei des Herrn Seyß-Inquart“? beschlagnahmt und
eingestampft worden. Und eben diese dritte Ausgabe, das „Son¬
derheft Surrealismus“, hätte in Österreich den Weg der Avantgarde
zeigen sollen. Andre Bretons Erstes und Zweites surrealistisches
Manifest waren auszugsweise und erstmals in deutscher Über¬
setzung abgedruckt (sie sollten schließlich erst und erstmals auf
Deutsch 1950 in den „Surrealistischen Publikationen“ von Edgar
Jene und Max Hölzer in Klagenfurt erscheinen), auch enthielt
das Heft einen Beitrag von Heinz Politzer, welcher im Exil in
den USA ein bedeutender Kafka-Forscher werden sollte, mit
dem Titel „Franz Kafka und der Surrealismus“. Die Dichterin
und Studentin Hertha Kräftner arbeitete übrigens um 1950 an
einer Dissertation zu fast dem gleichen Thema‘. Auch waren in
dem Heft, neben Zeichnungen steirischer Bergarbeiterkinder,
Arbeiten von Max Ernst abgebildet.
Natürlich ist die Frage spannend, wie eine linke Publikation in
Zeiten des Austrofaschismus erscheinen konnte. Eine mögliche
Erklärung ist, dass das Schuschnigg-Regime in den letzten Mo¬
naten vor seinem Ende Verbündete gegen die Nazis gesucht hat
und diese vorwiegend links zu finden waren. Man suchte diskret
Gespräche mit Gewerkschaftlern, mit der Führung der Sozialist¬
Innen, und man amnestierte fast alle linken Oppositionellen,
die teilweise schon seit Jahren eingesperrt waren (auch die Nazis
wurden amnestiert, aber das ist ein anderes Kapitel). Eine weitere
Erklärung könnte sein, dass von Anna Mahler gleich im ersten
Heft die Skulptur „Die Stehende“ abgebildet war, jene Skulptur,
die man 1937 im Österreich-Pavillon der Weltausstellung in Paris
hatte schen können. Die Tatsache, dass Diktator Schuschnigg, der
eng mit Franz und Alma Mahler-Werfel befreundet war, eine Zeit
lang ein Liebesverhältnis mit Anna Mahler hatte und ihr bün¬
delweise Liebesbriefe schrieb’, könnte erklären, dass das Projekt
„Plan“ tabu für die Zensur war.
Von März 1938 bis April 1945 konnte es in Wien nur insgeheim
surrealistische Betätigung geben, ausgehend vom kleinen Kreis
um Otto Basil, Rudolf Pointner und Edgar Jené. 1940 erschien,
wie schon in der letzten ZW erwähnt‘, das Mappenwerk „Freund
des Orients“ mit Gedichten von Otto Basil und Holzschnitten
von Edgar Jen&, beide hatten eigentlich Schreib- und Malverbot.
Die Auflage von 100 Stück wurde „im Auftrag eines Bibliophilen
[illegal] bei Franz Karner (Anton Durstmüller) in Wien gedruckt,
die Buchbinderarbeit besorgte Gustav Zimpel‘”, übrigens ein Neffe
Gustav Klimts. Im Dezember 1942 wurde eine Mappenarbeit in
wesentlich kleinerer Auflage von Rudolf Pointner produziert. Die
Drucke der Mappe waren im verbotenen „surreal-kubistischen“®